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Gesund und gut fürs Klima?
Die Illusion vom gesunden Fleischersatz

Burger ohne schlechtes Gewissen – auch im Restaurant. 
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Das «1880» in Singapur ist eines dieser Restaurants, in denen es nur am Rande darum geht, satt zu werden. Wer hier ein Menü bestellt, bekommt immer auch eine Haltung mitserviert, die Corporate Identity und ein kohärentes Weltbild sind fester Bestandteil der Zutatenliste. Seit Kurzem ist die Speisekarte um einen Punkt reicher: ein Trio vom Hühnchen im knusprigen Sesammantel, angerichtet auf einer Ahornsirupwaffel mit etwas Bohnenmus. Halb Vorspeise und halb kulinarische Kunstinstallation, nicht mehr als ein Amuse-Gueule, zum stolzen Preis von umgerechnet knapp 22 Franken.

Für diese Summe darf man freilich einen lückenlosen Herkunftsnachweis erwarten. Nun gut, das Luxus-McNugget stammt also aus einem 1200-Liter-Bio-Reaktor, in dem es in einer Nährlösung aus Pflanzenproteinen und fetalem Kälberserum reift und wächst. Ausgangsmaterial sind biopsierte Muskelzellen von lebenden und – wohl allein wegen dieses Umstands – recht glücklichen Hühnern.

Ist der Freibrief zum Verzehr vielleicht sogar das grösste Versprechen der durchtechnisierten Ernährung?

Singapur ist weltweit das erste Land, dessen oberste Lebensmittelbehörde das Kunstfleisch für den Verzehr freigegeben hat. Verbraucher- und Umweltschützer, Marktanalysten und selbstverständlich auch der Erzeuger sind in seltener Einigkeit der Meinung, dass es sich um einen Meilenstein handelt. «Meine Hoffnung ist, dass dies in den nächsten paar Jahren zu einer Welt führt, in der für den Grossteil des Fleisches kein einziges Tier mehr getötet oder kein einziger Baum gefällt werden muss», so Josh Tetrick, CEO des Herstellers Eat Just.

Scheinfleisch, das die Umwelt schützt

«Wir rufen Nein, Nein, Nein! Lass die Tiere in Ruh! Ich sag nur, stell dir doch mal vor, das wären ich und du!», lautet der etwas ungelenke Refrain eines Liedes aus dem aktuellen Amazon-Remake des deutschen Kinderfilms «Bibi und Tina». Die ebenso junge wie tierliebende Zielgruppe singt begeistert mit, zumal sie in diesem Alter das Privileg hat, sich noch nicht über das Dilemma von ernährungspolitischen Zwängen und nachhaltiger Lebensmittelproduktion den Kopf zerbrechen zu müssen.

Wie es aussieht, könnte die Ponyhof-Forderung endlich erfüllt werden. Der technische Fortschritt erleichtert Enthaltsamkeit und Verzicht. Es wird zwar noch immer Jahre dauern, bis künstliches Fleisch günstig genug ist, um im Mainstream-Markt eine Rolle zu spielen.

Bis es so weit ist, gibt es jedoch schon eine ganze Reihe von Ersatzprodukten aus Erbsen-, Lupinen oder Linsenprotein, die den Konsumenten über den grossen Hunger hinweghelfen. Scheinfleisch, das nicht nur die Umwelt schützt, sondern gleichzeitig auch gesünder ist, weniger Kalorien, weniger Cholesterin und weniger Fett beinhaltet.

Was wird da also versprochen? Voller Geschmack bei minimal schlechtem Gewissen. Ein Ablasshandel, getätigt an der Supermarktkasse. Moralische Überlegenheit durch Konsum. Ein besserer Mensch werden, selbst im Fastfood-Restaurant, denn auch dort sind die Besser-Burger schon im Sortiment.

Ersatzprodukte für tierische Erzeugnisse sind bei Weitem keine neue Erfindung.

Ist der Freibrief zum Verzehr vielleicht sogar das grösste Versprechen der durchtechnisierten Ernährung? Das ultimative Convenience Food der Gegenwart befreit nicht nur von den Anstrengungen der Zubereitung, sondern auch von unnötigen Denkprozessen. Der Verbraucher ist in den Gängen der Supermärkte dankbar für jede intellektuelle Erleichterung, angesichts des Mental Overload des modernen Menschen ist der sogar dankbar für ein Sojaprodukt, das so tut, als sei es ein Wienerli.

Linsenburger sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Fleischersatzprodukte gibt es schon lange.  

Die Tech-Branche hat die Zeichen der Zeit schon erkannt. Längst sind nicht mehr nur Apple oder Tesla extrem attraktiv für clevere Investoren, sondern auch Ernährungs-Start-ups. Der Aktienkurs des bekannten Herstellers Beyond Meat ist seit der Erstausgabe vor knapp zwei Jahren um mehr als 150 Prozent gestiegen. Traditionelle Fleischerzeuger springen ebenso auf den Zug auf wie globale Megakonzerne, etwa Nestlé.

Fleisch aus Erbsen, welch eine Hybris!

Dabei sind Ersatzprodukte für tierische Erzeugnisse bei Weitem keine neue Erfindung. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Margarine erfunden, um die teure Butter zu substituieren. Einige Jahre später gab es dann Erbswurst und andere proteinhaltige Kunstnahrung, die hauptsächlich zur Verpflegung der Armeen gedacht waren.

Fleisch ist längst nicht das einzige tierische Produkt, das in naher Zukunft durch Pflanzen ersetzt werden soll. Es gibt Start-ups, die Sashimi ohne Thunfisch, Honig ohne Bienen und Eier ohne Hühner produzieren wollen oder das schon tun. Vage milchähnliche Flüssigkeiten ohne die Beteiligung von Kühen stehen ohnehin schon seit langer Zeit in den Regalen. Fabrik-Farmen revolutionieren die pflanzliche Landwirtschaft, schaffen mehr Ertrag und schonen gleichzeitig die Böden. All diese Innovationen bewirken also mehr Tier- und Umweltschutz.

Die Aussicht, kein Fleisch mehr essen zu können oder gar zu dürfen, rührt dagegen an menschliche Urängste.

Alles gut also? Natürlich nicht. Ein vollwertiges Lebensmittel, etwa eine Erbse, zu zerstören, um aus den Überresten Fake Fleisch zusammenzubasteln – dafür bedarf es einer Hybris, die so nur der Kapitalismus hervorbringen kann. «Eigentlich ist es verrückt, aus Sojabohnen oder Weizenprotein Fleischimitate herzustellen», sagt auch Thomas Ellrott, Ernährungspsychologe an der Uni Göttingen.

Nun ist es aber so, dass der Konsum von totem Tier gesellschaftlich äusserst positiv besetzt ist. Die Aussicht, kein Fleisch mehr essen zu können oder gar zu dürfen, rührt dagegen an menschliche Urängste. Ernährung stifte Sinn und Orientierung, so Ellrott. Der Sonntagsbraten ist natürlich nicht nur Kalorienbombe, sondern war auch lange Zeit ein Zeichen für gesellschaftlichen Erfolg.

Droht jetzt ein ungezügelter Hedonismus?

So wie jetzt kann es jedenfalls nicht mehr lange weitergehen. Die Fleischproduktion allein ist für 14,5 Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. In der CO2-Bilanz eines jeden deutschen Bundesbürgers schlägt seine Ernährung, sofern er handelsübliche Mischkost zu sich nimmt, mit knapp 1,7 Tonnen C02-Emissionen jährlich zu Buche. 60 Kilogramm Fleisch isst ein Deutscher durchschnittlich pro Jahr, in der Schweiz kommen immerhin 52 Kilogramm zusammen. Das ist weder nachhaltig noch gesund.

Ernährungsexperten empfehlen ungefähr ein Drittel dieser Menge. Zwar sinkt der Pro-Kopf-Fleischkonsum in den industrialisierten Ländern seit Jahren kontinuierlich, im weltweiten Mittel steigt er jedoch stark an. Umso wichtiger ist deshalb, dass die Ersatzprodukte eine deutlich bessere Öko-Bilanz aufweisen als das Original: Für die Produktion eines Kilos Fleischersatz auf Sojabasis werden 2,8 Kilogramm Treibhausgase ausgestossen, zehn Mal weniger als für ein Kilo Rindersteak. Und von den Qualen der Massentierhaltung war da noch nicht einmal die Rede.

Man müsse sich zudem «klarmachen, dass das hochprozessierte Materialien sind», sagt der Lebensmittelphysiker.

Demo für den Schutz von Tieren in Zürich im Jahr 2019.

Leo Tolstoi hat der Nachwelt unter anderem folgende Gleichung hinterlassen: Glück bestehe in Genuss ohne Reue. Zahlreiche Ernährungsratgeber haben schon von sich versprochen, genau das einzulösen, doch die präsentierten Rezepte haben eher einen faden Nachgeschmack hinterlassen. Was passiert nun, wenn ein Bestandteil dieser Rechnung, also die Reue, ersatzlos gestrichen wird? Droht jetzt ein ungezügelter Flexitarier-Hedonismus? Dürfen wir bald hemmungslos schlemmen und zechen, ohne am Tag danach mal wieder uns selbst und den eigenen schwachen Willen zu verfluchen?

Von Abscheu zu Absolution

Wahrer Wandel kann nur entstehen, wenn auch die eigene Anspruchshaltung angepasst wird. Es entsteht noch kein nachhaltiger Lebensstil, wenn die Menschheit ihre im Spätkapitalismus erlernten Konsummuster nun einfach auf neue erstrebenswerte Produkte ausrichtet. Schliesslich wird eine steigende Nachfrage nach Ersatzprodukten in letzter Konsequenz wieder zu den gleichen Monokulturen führen, die auch heute schon die Viehherden ernähren. Es ist die Masslosigkeit, die endgültig vom Menü gestrichen werden muss.

Man müsse sich zudem «klarmachen, dass das hochprozessierte Materialien sind», sagt der Lebensmittelphysiker Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. «Das sind keine Lebensmittel, die es in der Natur gibt. Das bedeutet, dass die Zutatenliste lang ist.» Um Textur und Konsistenz von Fleisch nachzuahmen, müsse «man einigen Aufwand treiben. Das geht nur mit hochtechnischen Geräten.» Hinzu kommen noch eine ganze Reihe von Stabilisatoren und Emulgatoren.

Durch die Fleischsubstitute droht die weitere Verfestigung eines Ernährungsprekariats.

Heutzutage gibt man gerne Geld für künstliches Essen aus und fühlt sich auch noch gut dabei. Die Marketingabteilungen der Unternehmen haben die unglaubliche Leistung vollbracht, die gesellschaftliche Wahrnehmung der Ersatzprodukte vollkommen umzukehren. Statt Abscheu auszulösen, versprechen sie jetzt Absolution.

Dabei ist es ja nicht so, dass die Menschen nach Jahrzehnten von Tiefkühlkost, Backmischungen und Tütensuppen nicht ohnehin schon vollkommen von ihrer Nahrung entfremdet wären. Durch die Fleischsubstitute droht die weitere Verfestigung eines Ernährungsprekariats, dem ein ganz wesentlicher Bestandteil von Ernährung gänzlich abhandenkommt. Wer nie gelernt hat, nach Herkunft und Qualität seines Essens zu fragen, wird beim Laborfleisch nicht mehr damit anfangen.