Essay zum Chaos am Flughafen ZürichDie Hölle vor der Gepäckkontrolle
Seit Wochen stehen die Passagiere am Flughafen Zürich in langen Schlangen. Wie der Ärger darüber hochkocht, sagt viel über unser Land aus.
Ein Donnerstag im Mai, 6.15 Uhr, 20 Minuten bis zum Boarding: Nichts bewegt sich. Die Reisenden stauen sich vor der Handgepäckkontrolle. Einige wedeln mit ihrem Ticket, andere beginnen zu telefonieren, wieder andere drängeln sich vor, entschuldigende Blicke gehen nach links und rechts.
Und ich bin mittendrin. Natürlich zu spät dran – obwohl die Überlastung in den Tagen zuvor auf der Redaktion wiederholt Thema war und Dutzende Artikel über den Mangel an Kontrollpersonal erschienen sind. Die früher gemachten Erfahrungen – am Flughafen Zürich gehts immer schnell vorwärts – liessen sich nicht überschreiben.
Die Blockade vor den Gepäckscannern ist längst die bekannteste Warteschlange des Landes, ein Problem nationalen Zuschnitts. Man werde jetzt Sicherheitsleute ohne Schweizer Pass rekrutieren, liess der zuständige Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) die NZZ wissen. Fremde Richter an den Metalldetektoren! Auch diese Redaktion setzte das Wort «Chaos» in eine Oberzeile.
Der angeranzte Charme von Neapel
Ist das übertrieben? Kommt auf die Brille an, durch die man auf die Situation blickt. Offensichtlich ist hier etwas falsch gelaufen, falsch geplant, schlecht eingeschätzt. Tausende Passagiere müssen in diesen Wochen Stress aushalten, viele unverschuldet, manch einer verpasst seinen Flug.
Der Flughafen selbst teilt ganz offen mit, dass man ein Problem habe. Dass man nicht die gewohnte Qualität biete. Es ist also nichts als richtig, dass sich die Öffentlichkeit ärgert. Und es muss auch schnellstmöglich eine Lösung her, sei es durch Reaktivierung von Pensionierten oder Beizug von temporärer Hilfe wie Studierenden. Nicht zuletzt, weil der Flughafen ein Aushängeschild für das Land ist. Touristen, Geschäftsleute, Familien: Durch den Sicherheitscheck müssen alle.
Aber trotzdem: Es hat etwas Kleinliches, über eine solche Delle in unseren Tagesabläufen zu klagen, die dank Apps und Navis oft (zu) eng getaktet sind. Zumal viele Reisende ohnehin auf der Suche nach dem Unperfekten sind. Nach dem angeranzten Charme von Neapel oder dem lärmigen Strassenchaos von Bangkok. Und: Viele werden am Reiseziel stundenlang in Schlangen stehen, um im Disney World in Florida ins «Ratatouille-Adventure» zu gelangen oder um im Louvre einen Blick auf die Mona Lisa zu erhaschen.
6.40 Uhr, das Boarding am noch fernen Gate läuft seit 5 Minuten. Wir sind ins obere Geschoss der Gepäckkontrolle gelotst worden. Ein Passagier blockiert den Durchgang, eine Hand voll Wattestäbchen ist ihm aus dem Necessaire gefallen, das er vorsorglich aus seiner Tragtasche gekramt hat. Abflugzeit ist 7.00 Uhr, ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt.
Ärger bringt Energie
Es ist ein sehr schweizerisches Paradox: Je näher wir in diesem Land der Perfektion kommen, desto höher gehen die Emotionen, wenn wir sie verfehlen. Beobachtbar ist das bei der öffentlichen Infrastruktur, von den SBB bis zum Wanderwegnetz, oder dem Design von städtischen WC-Häuschen. Aber zum Beispiel auch bei Anlässen, vom Apéro («Der Weisse war zu warm!») bis zum Zürifäscht («Das Feuerwerk hat alles eingenebelt!»).
In einem Land, das viele existenzielle Probleme wie Hunger oder Gewalt auf offener Strasse zu grossen Teilen unter Kontrolle hat, überrascht es nicht, dass der Blick bisweilen auf Petitessen verharrt. Die dann immer grösser werden, je länger man darauf fokussiert. Deswegen reagieren wir auch mit einer ganz eigenen Art von Überforderung, wenn es doch mal grundsätzlich wird, zum Beispiel, wenn eine Pandemie ausbricht. Wir müssen dann zuerst die Problem-Skala neu justieren.
Dieses Leben kann anstrengend sein: Irgendwo verbrennt immer ein Einweggrill den Stadtpark-Rasen.
Dennoch: Mäkelei auf hohem Niveau ist eigentlich eine Schweizer Stärke. Ärger bringt Energie ins System, und ohne Energie keine Bewegung. Das gilt ganz besonders für eine direktdemokratische Struktur, bei der Mit- und Dreinreden offiziell eingeplant ist. Vielleicht kommt auch daher der Drang, ständig alles verbessern zu wollen.
Durchatmen
Gleichzeitig kann dieses Leben anstrengend sein: Irgendwo verbrennt immer ein Einweggrill den Stadtpark-Rasen. Perfektion wird ausser Reichweite bleiben. Darum schadet es wohl nicht, wenn wir unseren Fokus auf den Swiss Finish von Zeit zu Zeit ganz bewusst ausschalten. Und ausnahmsweise mal durchatmen, wenns in der Schlange nicht vorwärtsgeht.
6.55 Uhr, das Boarding läuft seit 25 Minuten. Ich spurte durch das Terminal, die Kontrolle endlich hinter mir lassend. Als zweitletzter Passagier schaffe ich es durch die Schranke am Gate. Es reicht sogar noch für ein kurzes Gespräch: «An der Kontrolle hängen geblieben?» – «Über eine halbe Stunde!» – «Stellen Sie sich vor, wie schlimm das erst in den Sommerferien wird …»
Sicher, stimmt. Aber ich steige jetzt ins Flugzeug. Noch während der Suche nach meinem Sitzplatz verblasst die Erinnerung an den Gepäckkontrollenstau, die Vorfreude auf die Reise steigt. Ob die Swiss wohl immer noch gratis Schöggeli verteilt – oder haben sie das jetzt auch noch weggespart!?
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