Frankreich verhaftet RotbrigadistenDie geduldeten Terroristen
Jahrzehntelang lebten sie unbehelligt in Frankreich: Nun sind neun italienische Linksterroristen festgenommen worden. Vom Ende einer umstrittenen Doktrin.
«Es wurde ja auch Zeit», titelt die Zeitung «La Stampa». Nach langem Ringen hat Frankreich dem alten Ersuchen aus Italien stattgegeben und eine Reihe ehemaliger Linksextremisten und Terroristen der Roten Brigaden festgenommen, die zum Teil seit Jahrzehnten unbehelligt in einer Art politischem Exil dort leben. Neun insgesamt, sie sollen ausgeliefert werden. Ein weiterer konnte untertauchen, bevor die französische Polizei kam.
Die Operation trug den Namen «Rote Schatten» und gilt schon jetzt als historisch – als Zäsur.
In der «Doctrine Mitterrand» gab es eine Ausnahme – theoretisch
Mit den Verhaftungen bricht Emmanuel Macron mit der umstrittenen «Doctrine Mitterrand», benannt nach einem seiner Amtsvorgänger, dem ehemaligen sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Der hatte 1985, als sich Italien gerade langsam aus den bleiernen Jahren des Terrorismus befreite, italienischen Linksaktivisten ein Leben ohne Strafverfolgung angeboten. Mitterrand gestand ihnen den Status von politisch Verfolgten zu und versprach ihnen, sie nicht an Italien auszuliefern, wenn sie sich dafür im Exil gut aufführen.
Ausgenommen sein sollten Leute, die «Blut an den Händen» haben. Theoretisch wenigstens. In der Praxis wurde die Ausnahmeregelung jedoch ignoriert, überhaupt war die gesamte Doktrin nicht verschriftlicht – sie liess also immer viel Raum für Interpretation. Und so profitierten auch Dutzende Terroristen von der Doktrin, die in der Heimat zu langen Haftstrafen wegen Mordes verurteilt worden waren.
Sie bauten sich ein neues Leben auf in Frankreich, die meisten von ihnen in Paris, wo sie auch auf die Unterstützung von linken Intellektuellen zählen konnten. Weltberühmt wurde der Fall von Cesare Battisti, den sie in Paris als Krimiautor gefeiert hatten, bevor er im Januar 2019 nach seiner Flucht nach Brasilien gefasst und an Italien ausgeliefert wurde. Ein anderer führte jahrelang ein Restaurant in Paris, am Canal Saint-Martin, beste Lage. Ein weiterer arbeitete als Übersetzer für Verlagshäuser.
Auf Angehörige der Terroropfer in Italien wirkte das immer wie ein Hohn auf ihre Trauer. Römische Regierungen klagten, Paris verachte den italienischen Rechtsstaat. Dennoch: Vor Macron mochte kein Amtsnachfolger Mitterrands die Handhabe ändern, weder die konservativen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy noch der Sozialist François Hollande.
Der neue Draht zwischen Paris und Rom
Die Wende kommt nur vordergründig überraschend: Die Zeit drängte. Die Haftstrafen von zwei Gesuchten wären am 8. und am 10. Mai wegen Verjährung getilgt worden. Der ehemalige Rotbrigadist Maurizio Di Marzio und Luigi Bergamin von den Proletari Armati per il Comunismo bekamen Wind von der Operation und flohen rechtzeitig. Bergamin überlegte es sich dann aber doch anders und stellte sich am Donnerstag.
Entscheidend für das Umdenken in Paris war offenbar auch, dass Macron sich mit Italiens neuem Premier Mario Draghi seit dessen Amtsantritt vor zweieinhalb Monaten sehr regelmässig ausgetauscht hat, auch über dieses ungelöste Dossiers. Sie verstehen sich glänzend. Im Hintergrund verhandelten die Justizminister beider Länder.
Draghi spricht von einer «Wunde im Herzen» der Italiener
Der Politologe Marc Lazar vermutet zudem, Macron komme der Bruch mit der Mitterrand-Doktrin auch aus innenpolitischen Gründen zupass: Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr sei Macron daran interessiert, sich in Sicherheitsfragen stärker zu positionieren, sagte Lazar, der an der Pariser Universität Sciences Po und an der römischen Luiss unterrichtet, in einem Interview. Diese Kehrtwende schärfe sein Profil und solle ihn auch bei bürgerlichen Wählern beliebter machen. Ausserdem sei in der französischen Öffentlichkeit nach den Attentaten im Bataclan, bei «Charlie Hebdo» und in Nizza das Mitgefühl für Angehörige von Terroropfern deutlich gewachsen. «Das ist eine echte Veränderung zu früher», sagte Lazar. «Macron setzt darauf.»
Draghi spricht von einer «Wunde im Herzen» der Italiener, die nun endlich verheilen könne. «Diese Männer haben sich schwerwiegendster Vergehen schuldig gemacht.» Er sprach auch von «barbarischen Taten».
Für viele Italiener kommt die Wende viel zu spät. Giorgio Pietrostefani, der prominenteste Verhaftete, einst Mitgründer der ausserparlamentarischen Partei Lotta Continua, ist jetzt 78 Jahre alt und schwer krank. Die Italiener kennen nur Fotos in Schwarzweiss von ihm. Er soll den Mord an Polizeikommissar Luigi Calabresi in Auftrag gegeben haben. Es ist lange her, fast ein halbes Jahrhundert. Calabresi wurde am 17. Mai 1972 getötet.
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