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Zweiklassengesellschaft in der Pflege
Die einen Pflegerinnen werden dringend gesucht, die anderen will keiner

Zwischen den verschiedenen Bildungsgraden hat sich eine Schere geöffnet: Eine Pflegerin im Gespräch mit einer Covid-19-Patientin im Kantonsspital Freiburg, November 2020.
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Vor dem Hintergrund der Gesundheitskrise und der Solidarität mit jener Berufsgruppe, die mehrere Male über ihre Grenzen hinausging, dürfte die Pflegeinitiative am Sonntag eine komfortable Mehrheit erreichen.

Die Initiantinnen argumentieren unter anderem damit, dass es in der Pflege einen akuten Fachkräftemangel gebe. So seien im dritten Quartal 11’700 Jobinserate für Pflegekräfte geschaltet worden. Zudem verschärfe sich das Problem laufend. Bis 2029 brauche es 70’500 Pflegende mehr – also einmal die Einwohnerzahl der Stadt St. Gallen.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In einigen Bereichen der Pflege herrscht nämlich das Gegenteil von Personalknappheit. So waren im Oktober knapp 3000 Pflegehelferinnen – also Personen ohne Lehre oder Studium, sondern allein mit einer Grundausbildung – auf Stellensuche. Das zeigen Zahlen, die das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) dieser Zeitung zur Verfügung gestellt hat.

Teilweise weit über dem Schweizer Schnitt

Die Arbeitslosenquote in diesem Beruf ist trotz des Pflegenotstands seit Anfang letzten Jahres um 0,1 Prozentpunkte auf 3,7 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosenquote der gesamten Volkswirtschaft liegt derzeit bei 2,5 Prozent.

Eine Bildungsstufe höher bei den Fachkräften Gesundheit – dazu braucht es eine dreijährige Lehre – ist die Arbeitslosenquote seit Anfang 2020 sogar um 0,9 Prozentpunkte auf 3,1 Prozent gestiegen. Dort suchen knapp 1500 Personen eine Stelle.

Anders sieht es bei den diplomierten Pflegefachpersonen aus – das sind jene, die sich zum Beispiel an einer Fachhochschule weitergebildet haben. Dort bewegt sich die Arbeitslosenquote konstant deutlich unter 1 Prozent, was rund 1000 Personen entspricht.

«Wir sehen, dass sich zwischen den verschiedenen Bildungsgraden in den letzten Monaten eine Schere geöffnet hat: Gutausgebildete werden noch stärker gesucht, die anderen haben noch mehr Mühe», sagt Helen Buchs, Soziologin an der Uni Zürich. Sie ist in Zusammenarbeit mit dem Personaldienstleister Adecco verantwortlich für den am Donnerstag erscheinenden Fachkräftemangel-Index. Die neue Zweiteilung des Pflegebereichs ist eine der Haupterkenntnisse der Studie.

Grundsätzlich sei diese Entwicklung in mehreren Branchen sichtbar, sagt Buchs, zum Beispiel auch in kaufmännischen und administrativen Berufen. «Im Pflegebereich ist der Effekt jedoch besonders überraschend. Ich vermute, dass in den Alters- und Pflegeheimen vermehrt Betten leer stehen, weil viele Bewohnerinnen am Coronavirus gestorben sind. Zudem wollen weniger Menschen ins Heim zügeln, sei es aus Angst vor einem Virusausbruch dort oder davor, wie zu Beginn der Pandemie wieder eingesperrt zu werden.»

Kombiniert mit höheren Kosten für die Pflege durch die Pandemiesituation, schlug das auf die finanzielle Lage der Alters- und Pflegeheime in der Schweiz. Das konstatierte im Frühsommer auch ein Bericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG).

Einige der Institutionen hätten wohl keine andere Lösung gesehen, als zu Entlassungen zu greifen, interpretiert Studienautorin Buchs die gestiegenen Zahlen der Stellensuchenden. «Das traf die Pflegenden mit tiefer Bildung, da man diese relativ einfach wieder findet, sobald man sie wieder braucht.»

«Viele sind auf das Einkommen aus dem Beruf angewiesen. Eine Weiterbildung liegt da nicht drin.»

Theres Meierhofer-Lauffer, Betriebsleiterin des Alters- und Pflegeheims Erlenhaus in Engelberg OW

Tatsächlich sagt auch Theres Meierhofer-Lauffer, Betriebsleiterin des Alters- und Pflegeheims Erlenhaus in Engelberg OW, dass sie nie Fachkräfte, also jene mit hoher Ausbildung, entlassen würde. «Es ist enorm schwierig, solche Leute zu finden, insbesondere an abgelegenen Standorten wie unserem.» Personen ohne Lehr- oder Studienabschluss habe es dagegen genug.

Entlassen habe sie trotz leerer Betten niemanden, sagt Meierhofer-Lauffer. Möglich sei das gewesen, weil die Gemeinde das Heim bei seiner Strategie unterstützt habe und für die Restkosten aufgekommen sei. «Ich halte es für falsch, dass an anderen Orten Pflegehelferinnen wegen der schwierigen Situation über die Klinge springen mussten. Das sind oft treue Angestellte mit viel Erfahrung und ganz besonderen Beziehungen zu den Bewohnern des Heims.»

Warum machen die denn nicht einfach eine Weiterbildung, wenn sie dann viel gesuchter wären? «So einfach ist das eben nicht», sagt Meierhofer-Lauffer. «Es sind häufig Menschen mit Migrationshintergrund, oft haben sie auch schon ein gewisses Alter. Vor allem aber sind sie meistens auf das Einkommen aus dem Beruf angewiesen. Eine Weiterbildung liegt da nicht drin.»

Gegenvorschlag oder Initiative?

Das Erlenhaus in Engelberg offeriere seinen Angestellten darum mehr Möglichkeiten zur berufsbegleitenden Weiterbildung. «Das kostet uns zwar Geld, aber so können wir unseren Fachkräftemangel beheben.» Andere Häuser, deren Sitzkantone weniger für die Pflegefinanzierung ausgeben, können das nicht anbieten.

«Darum ist es eines der Anliegen der Pflegeinitiative, die Aus- und Weiterbildung zu stärken», sagt Mitinitiantin Yvonne Ribi. Allerdings würde dieser Punkt auch mit dem indirekten Gegenvorschlag des Parlaments erreicht, der bei einer Ablehnung der Vorlage in Kraft treten würde. Er würde zudem schneller wirken als die Initiative, die das Parlament erst noch umsetzen müsste.

«Wenn sie den ganzen Tag physische und psychische Höchstleistungen vollbringen und trotzdem oft kritisiert werden, dann wird ein Job schnell unattraktiv», wendet Marcel Keller ein, Chef von Adecco. Die Firma hat einen Fokus darauf gelegt, Pflegekräfte zu vermitteln.

Er unterstützt damit die Argumentation von Initiantin Ribi, die sagt: «Einer der Treiber des Fachkräftemangels ist nicht nur, dass zu wenig Personal ausgebildet wird, sondern dass auch zu viele abspringen.» Die Initiative fordert deswegen über den Gegenvorschlag hinaus bessere Personalschlüssel und bessere Arbeitsbedingungen.