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Meinung

Kommentar zum Erfolgsbuch «Spare»
Die eigentliche Geschichte, die Harry erzählen will

Harry beim Interview für die US-Fernsehsendung «60 Minutes».
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«Spare» hat eine Lawine an Berichten und Kommentaren ausgelöst. Prinz Harry hat mit seiner Autobiografie ein paar schwere Brocken auf die britische Monarchie geschleudert, während diese hinter einem Schutzwall des Schweigens ausharrt und wartet, bis der Schutt vorbeigerollt ist. Vieles, worüber jetzt diskutiert wird, ist aber auch einfach schmutzig funkelnder Staub – die Sexanekdoten, die Hochzeitsquerelen, der Bruderstreit mit dem zerbrochenen Hundenapf.

Wenn der Staub sich verzieht, was bleibt?

Prinz Harry wird vorgehalten, er jammere zu viel und falle seiner Familie in den Rücken. Doch wer das Buch genauer liest, entdeckt eine andere Seite an seiner Geschichte. Eine leisere, eine mit Zwischentönen.

Charles hat eine zarte Seite, wenn er Harry seinen «darling boy» nennt.

Wenn Harry etwa schildert, wie er mit seinem Vater Charles, «Pa» nennt er ihn, und seinem Bruder «Willy» den letzten Abend vor dessen Hochzeit verbringt, ist das regelrecht intim. Ein Vater und zwei Brüder zusammen am Tisch, William trinkt etwas zu viel. Und Harry verkneift es sich, von den Frostbeulen an seinem Penis zu erzählen.

Der erste Impuls ist hier: Was? Erfrierungen? Am Penis? Doch wie Harry den Faden an der Stelle weiterspinnt und sich selbst fragt, wie es sein kann, dass er seinen engsten Familienmitgliedern nicht von seiner Versehrung erzählt, ist letztlich der Kern und das Interessante an der Episode.

Ringen mit der Ausgestaltung ihrer Rollen: Charles und Harry 2019 bei einer Filmpremiere.

Dabei werden die Beziehungen zum Vater und zum Bruder auch um einiges vielschichtiger, als es den Schlagzeilen nach den Anschein macht. Alle drei ringen mit der Ausgestaltung ihrer Rollen, als Teil der Krone, als Teil einer Familie. Charles hat auch eine zarte Seite, wenn er Harry seinen «darling boy» nennt, hin und wieder scheint er überfordert. William ist der grosse Bruder, stramm im Thronfolger-Modus, der immer ein bisschen auf Harry aufpassen muss und manchmal eben auch seinen kleinen Bruder braucht.

Ein anderes Beispiel ist die Afghanistan-Episode. Das Sensationelle daran ist natürlich, dass der Prinz berichtet, wie viele Menschen er in seinem Militäreinsatz getötet hat. Dafür wurde er von Armeeangehörigen kritisiert.

«Emotionale Distanziertheit»; Harry nach seiner Rückkehr aus Afghanistan 2008.

Doch wer die Stelle liest, sieht, dass Harry beschreibt, wie modernste Technologie im Krieg eingesetzt wurde, wie eben jeder Schuss aufgezeichnet und jede Tötung erfasst wurde. In diesem Kontext nennt er die Zahl. Harry thematisiert dabei auch die «emotionale Distanziertheit», die den Soldaten antrainiert würde, was er als problematisch, aber unvermeidlich einstuft.

Es hat Gewicht, wenn «die berühmteste Person des Planeten» sich so zeigt.

Und natürlich geht es Harry auch um die psychische Gesundheit, ein Thema, das er schon länger auf seiner Agenda hat, früher noch zusammen mit dem Bruder. Im Buch schreibt Harry von Panikattacken und dass er nach öffentlichen Auftritten jeweils schweissgebadet war, weil er unter einer Angststörung leidet. Er positioniert sich als Mann, der offen von seiner Psychotherapie erzählt, von der er sich erhoffte, endlich wieder einmal weinen zu können.

Ein Mann, der immer wieder unsicher ist, wie er mit neuen Gegebenheiten umgehen soll. Der seinen traditionell für ihn vorgesehenen Platz in der Gesellschaft nicht einfach annehmen will. Der ein Vater ist, der sich Zeit nimmt für seine Kinder. Und der sich fragt, ob seine verstorbene Mutter aus dem Jenseits das Geschehen beeinflusst.

Es hat Gewicht, wenn «die berühmteste Person des Planeten», wie ITV-Moderator Tom Bradby Harry nannte, sich so zeigt. Dass schon am ersten Tag nach Erscheinen weit über eine Million englischsprachige Exemplare verkauft wurden, ist ein Beweis dafür, dass sich diese Menschen für Harrys Figur und für seine Sichtweise interessieren – wer sich über ihn nervt, kauft sich das Buch kaum. Dazu bietet der Prinz auch Einblicke ins Innerste der britischen Monarchie, in die Schlösser und Protokolle, die es so noch nicht gegeben hat. Er beschreibt den sonderbaren Parallelalltag der Royals, von dem vieles bisher verborgen war, und er spricht an, worüber niemand sonst aus seiner Familie ausserhalb der Palastmauern spricht, die Belastungen, Traumata und Konflikte.

Prinz Harry ist in seiner exponierten Position, in die er hineingeboren wurde, prädestiniert dazu, sich und sein Umfeld zu hinterfragen. Und das ist womöglich die eigentliche Geschichte, die Harry mit «Spare» erzählen will.