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Ein kranker Mann im Kreml?
Die eigene Geheimniskrämerei holt Putin ein

Dunkelbrauner Schreibtisch, Russland-Fahne, drei beige Telefone: Der russische Präsident Wladimir Putin macht nur noch per Videoschaltung Politik.
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Es war ein schwieriges Jahr für Kremlbeobachter, für die es noch weniger zu beobachten gab als sonst. Wladimir Putin regiert das Land seit Monaten von seinem Arbeitszimmer aus. Dunkelbrauner Schreibtisch, Russland-Fahne, drei beige Telefone, der grosse Bildschirm für Konferenzschaltungen, wenig Raum für Interpretationen.

Also klammert man sich an Kleinigkeiten: Putin rollt bei einer Corona-Konferenz seinen Kuli gelangweilt über den Tisch? Sicher ein Zeichen dafür, dass er die Lust am Regieren vollends verloren hat. Bei einem seltenen Spaziergang über den Roten Platz zieht er ein Bein etwas nach. Schon wird gemunkelt, dass wohl doch was dran sein muss an den Gerüchten über Putins Parkinson.

Immunität grosszügig ausgebaut

Systeme, die sich auf Geheimniskrämerei und Halbwahrheiten stützen, verführen zur Zeichenleserei. In Russland geht es dabei meistens um die Frage, wie lange Putin wohl noch bleibt. Im Jahr 2020 haben zwei Gesetze die Spekulationen kräftig angeheizt: Das eine erlaubt Putin, zwei weitere Amtszeiten und damit praktisch bis an sein Lebensende an der Macht zu bleiben. Das zweite sichert ihn für den Fall ab, dass er doch früher aus dem Kreml ausziehen will. Es baut die Immunität für frühere Präsidenten grosszügig aus.

Vor allem das zweite Gesetz hat das Raunen über einen möglichen Rücktritt Putins lauter werden lassen. «Alle wissen mit Sicherheit, dass ein Übergang nächstes Jahr passieren soll. Nicht im Jahr 2023, nicht im Jahr 2024, sondern nächstes», sagte vor einigen Wochen Waleri Solowei, früher Dozent an der staatlichen Universität für Internationale Beziehungen in Moskau. Putin habe seiner Familie versprochen, die Rücktrittspläne im Januar bekannt zu geben.

Will angeblich nur noch bis 2021 im Amt bleiben: Wladimir Putin bei der Amtseinsetzung im Mai 2012 im Kreml.

Solowei ist schon früher mit fragwürdigen Theorien aufgefallen. Nun stützte er sich auf einen anonymen Telegram-Kanal, der angeblich dem Geheimdienst nahesteht. Dort heisst es, Putin habe sich Anfang des Jahres einer Krebsoperation unterzogen, er leide auch an Parkinson und Depressionen. Putin ist schon viel angedichtet worden, Lepra, ein Schlaganfall, uneheliche Kinder. Der Kreml reagierte knapp auf die Parkinson-Spekulation. «Absoluter Unsinn», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. «Alles ist in Ordnung mit dem Präsidenten.» Er habe auch nicht vor, in nächster Zeit zurückzutreten.

Putin gehört zu den am besten geschützten Staatsoberhäuptern der Welt. Während der Pandemie macht ihn das noch weniger greifbar. Wer ihn derzeit treffen möchte, sitzt vorher zwei Wochen in Quarantäne. Journalisten dürfen ihn nicht begleiten. Sein Arbeitszimmer ist zu Putins Bunker geworden, selbst die Hofberichterstatter der Sendung «Moskau.Kreml.Putin» zeigen fast nur noch Archivbilder oder eben Putin hinter dem Schreibtisch.

Mit der grossen Verfassungsreform wiegt er alle in Unsicherheit darüber, wie er weitermachen möchte.

Putin wirkt seit Ausbruch der Pandemie wenig enthusiastisch. Alle Veranstaltungen, bei denen er als Landesvater oder Oberbefehlshaber glänzen könnte, hat Corona ihm verdorben. Die Sendung «Direkter Draht», während der er stundenlang den Problemen von Bürgern lauscht, ist ausgefallen. An der Jahrespressekonferenz am Donnerstag nimmt Putin nur per Video teil. Ist also Corona schuld, oder hat Putin wirklich keine Lust mehr? «Er hat schon mehrmals darüber nachgedacht, ob er geht oder nicht», antwortet Gleb Pawlowski, der Putin früher beraten hat. Der Präsident sei «Geisel seiner nächsten Umgebung geworden. Und diese will nicht, dass er geht.»

Das ist eine gängige These: Putin als Gefangener seines eigenen Systems. Wäre ein Ende seiner Präsidentschaft absehbar, würden offene Grabenkämpfe ausbrechen. Deswegen musste Putin die Möglichkeit schaffen, nach 2024 weiterzumachen. Sonst würden in ein, zwei Jahren, so hat Putin es selbst gesagt, «Leute auf vielen Ebenen anfangen sich umzusehen, auf der Suche nach einem möglichen Nachfolger». Mit der grossen Verfassungsreform wiegt er alle in Unsicherheit darüber, wie er weitermachen möchte.

Wegen Corona fallen alle Auftritte aus, bei denen er glänzen könnte: Wladimir Putin 2012 mit einem Jagdgewehr unterwegs in Sibirien. 

«Es ist nicht seine Eigenschaft, Pläne zu schmieden», sagt Pawlowski, «er improvisiert.» Dass sich Journalisten und Öffentlichkeit so auf den Präsidenten fixieren, hält er für ein Problem. «Putin verwandelt sich in einen Übermenschen, der die ganze Zeit plant, intrigiert und so weiter.» Doch das tue der Präsident gar nicht. «Das grosse Geheimnis besteht darin, dass er keinen Plan hat.»

Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja hat mehrmals beschrieben, wie sich Putin immer stärker zurückzieht aus der Tagespolitik, nur noch selten selbst entscheide, «nicht weil er das nicht kann, sondern weil er nicht will». Sie beschreibt einen Machtapparat, dem nicht nur eine Zukunftsvision, sondern auch Führung fehle. Die russische Elite war stets gespalten. Doch weil sich Putin selber isoliere, würden diese Risse zum Problem, so Stanowaja.

«Das werden wir sehen, wenn die Zeit kommt»

Die grossen Probleme bleiben dann auch ungelöst. Wirtschaftskrise, Corona-Pandemie, Proteste in Weissrussland, Proteste in Russlands Fernem Osten, eisige Beziehungen mit der EU, eine bröckelnde Mehrheit daheim. Der Kreml sichert sich durch weitere Repressionen ab. Er testet neue Methoden bei Wahlen, verschärft die Regeln für öffentliche Proteste, stattet die Polizei mit neuen Freiheiten aus, schränkt die Opposition weiter ein.

Putin hat das Präsidentenamt mit so vielen Vollmachten ausgestattet, dass er womöglich nicht mehr wagt, es jemand anderem zu überlassen. Trotzdem wird der Präsident immer häufiger nach seinen Zukunftsplänen gefragt. «Sie muss definitiv irgendwann enden, das ist mir völlig bewusst», sagte Putin kürzlich über seine Präsidentschaft. Doch was 2024 oder später passiere, «das werden wir sehen, wenn die Zeit kommt».