Studie über die Generation Putin Die Protestbilder aus Moskau täuschen
Junge Russen sind viel konservativer, als es scheint: Sie sehen sich nicht als Europäer und lehnen eine Rückgabe der Krim kategorisch ab.
Letzten Sommer gingen in Moskau Zehntausende auf die Strasse, demonstrierten gegen unfaire Wahlen, gegen Korruption und das ewige, autokratische Regime Wladimir Putins. Allen voran waren es junge, sehr junge Russinnen und Russen. Polizisten in Kampfmontur mit Helm und Schlagstock führten blasse Schüler ab. Von der Generation Putin war die Rede, die sich da erhebt und die Russland über kurz oder lang in eine neue Zukunft führen werde. Eine umfassende Studie zu «Russlands Generation Z», über Verhalten und Werte von 14- bis 30-Jährigen, zeigt nun: Die Protestbilder täuschen, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sich in Russland etwas grundsätzlich ändert.
1500 junge Russen hat das renommierte Lewada-Institut in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung 2019/2020, also noch vor der Corona-Krise, im ganzen Land befragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich die politischen Ansichten junger Russen erstaunlich wenig von den Überzeugungen ihrer Eltern unterscheiden.
Schlechte Nachrichten für den Westen
Fast 60 Prozent der 14- bis 30-Jährigen interessieren sich nicht für Politik. Zwar ist die Autoritätsgläubigkeit nicht mehr ganz so gross wie bei den Erwachsenen. Es gibt mehr Liberale, vor allem in Moskau und in grossen Städten: Es war diese Gruppe, die publikumswirksam auf die Strasse ging letzten Sommer. Doch die Liberalen machen nur 16 Prozent aus. In der jungen Generation gibt es daneben deutlich mehr Nationalisten. Und die Zahl jener, die sich als Sozialdemokraten oder Kommunisten bezeichnen, ist gleich hoch wie bei den Erwachsenen.
Schlechte Nachrichten hält die Studie aber nicht für den Kreml bereit, sondern für den Westen. Europäische und amerikanische Politiker, die im Umgang mit Russland gern auf eine neue, unbelastete Generation hoffen, müssen sich auf eine längere Durststrecke einstellen: Die jungen Russen haben sich mit der neuen Konfrontation zwischen Ost und West abgefunden, die seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 herrscht.
Sie finden dieses angespannte Verhältnis mittlerweile normal und haben ihre Konsequenzen gezogen: 58 Prozent sagen, Russland sei kein europäisches Land. Nur acht Prozent sind entschieden anderer Meinung. Und drei Viertel der Befragten fühlen sich auch nicht wirklich beeinflusst von der westlichen Kultur. Der grösste Teil sagt, die Europäer seien schlicht nicht wichtig für sie: «Sie haben uns nie gemocht und hatten immer Angst vor uns. Diese Kämpfe sind endlos», kommentiert ein Befragter das Verhältnis zu Europa.
«Sie sollen Angst haben vor uns.»
Und auch beim eigentlichen Kern des Streits ist keine Entspannung zu erwarten. 67 Prozent der jungen Russen sind der festen Meinung, dass Russland die annektierte Krim nicht zurückgeben soll, auch nicht, wenn dafür die westlichen Sanktionen gelockert würden.
In der Ostukraine soll Russland ebenfalls seine umstrittene Rolle weiterspielen: Nur 29 Prozent sind dafür, die «wirtschaftliche und militärische» Unterstützung für die Rebellen in den Regionen Donezk und Luhansk zu stoppen. Eine knappe Mehrheit ist immerhin dafür, «militärische und politische Gefangene» mit der Ukraine auszutauschen.
Klar ist für die meisten jungen Russen auch, das nicht die russische Seite für den Konflikt zwischen Europa und Russland verantwortlich ist. Nur gerade 15 Prozent machen den Kreml für die Konfrontation verantwortlich, zwei Prozent sehen die Schuld bei der russischen Armee. Die Hauptschuld an der Konfrontation tragen mit fast 50 Prozent die USA, die nach Meinung der jungen Russen Europa und Russland gegeneinander aufhetzen.
Etwa jeder Fünfte gibt der EU die Schuld oder der Nato. Immerhin eine knappe Mehrheit findet, das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland könnte im Grundsatz freundlich sein, doch 42 Prozent sind überzeugt, dass es immer von Misstrauen beherrscht sein werde. «Uns geht es gut ohne die», kommentiert ein Befragter, «wir sind ein selbstständiges Land, das genug von allen möglichen Ressourcen hat.»
Das stellt die westliche Russlandpolitik grundsätzlich infrage: Während Amerikaner und Europäer darauf setzen, Russland mit Sanktionen zum Einlenken zu bringen in der Ukraine, ist nur ein Drittel der jungen Russen der Meinung, dass eine weitere Verschlechterung der Beziehungen für Russland ein Problem wäre. «Sie sollen Angst vor uns haben», sagt eine befragte Person. «Wir haben riesige nukleare Kapazitäten», sagt eine andere. Bei all der kämpferischen Rhetorik ist es kein Wunder, dass ein Krieg das ist, was jungen Russen gemäss der Umfrage am meisten Angst macht (60 Prozent sind sehr besorgt darüber). Danach folgt mit 54 Prozent der Klimawandel.
Die kritische Haltung dem Westen gegenüber ist nicht überall in Russland gleich, auch hier ist es insbesondere Moskau, das eine offenere Haltung einnimmt. Das kommt nicht nur in den Zahlen der Umfrage, sondern auch in den Kommentaren der Befragten zum Ausdruck. «Moskau ist natürlich Europa, aber Wologda ist überhaupt nicht Europa», erklärt eine Person aus der Stadt im Nordwesten Russlands. «Moskau ist ein unabhängiger Staat, wie die Vatikanstadt», lautet ein anderer Kommentar.
«Uns geht es gut ohne die.»
Bald 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion lässt die Wirkung des sowjetischen Erbes nach, allerdings auch das nur sehr zögerlich. Über ein Drittel der jungen Russen zwischen 14 und 17 Jahren beurteilt den Untergang der Sowjetunion noch immer als negativ. Bei den Befragten zwischen 25 und 30, die die alten Zeiten ebenfalls nicht mehr erlebt haben, beträgt der Anteil noch fast 50 Prozent.
Die Ablehnung der kommunistischen Diktatur wächst dabei nur sehr wenig, die jüngsten Russen stehen der Sowjetunion gleichgültig gegenüber oder haben keine Meinung dazu. «Die Lebensqualität ist besser geworden», kommentiert eine befragte Person zwischen 18 und 24. «Wir haben nun Telefone, grosse Fernseher und all das.» Oder: «Heute gibt es mehr Transparenz. Das gab es nicht unter Stalin. Ich glaube, die Situation ist besser jetzt.»
«Alles gehörte dem Staat, das war gut.»
Andere trauern einer materiellen Sicherheit nach, wie es auch ihre Eltern und Grosseltern tun: «Damals wusste man, dass man einen Job bekommt, wenn man studiert», sagt ein junger Russe. Ein anderer meint: «Alles gehörte dem Staat, und das war gut so.» Heute drehe sich alles nur noch um die Frage, wie man seine Kredite zurückzahle.
Als Garanten für Stabilität gelten bei den 14- bis 30-Jährigen Präsident Wladimir Putin und die russische Armee, vor allem in den Dörfern und in kleinen Städten. Es geht der jungen Generation dabei um das Gleiche wie der älteren: «All meine Kollegen wollen Stabilität und verlässliche Zukunftsperspektiven. Das ist am allerwichtigsten», lautet ein Kommentar aus Nowosibirsk.
«Man lernt, niemandem zu vertrauen.»
Trotz der hohen Zustimmungswerte für Putin: Überzeugte Autokratieanhänger sind die jungen Russen nicht: Ihnen gefällt das demokratische Modell, fast die Hälfte bezeichnet die Demokratie als die richtige Regierungsform für Russland. Doch gleichzeitig nennen etwa gleich viele das Regime der starken Hand als unerlässlich oder eine führende Partei, die den Menschen sagt, was wirklich wichtig ist. «Ändert sich etwas, wenn ich an Protesten teilnehme?», lautet ein Kommentar. «Nicht wirklich, nein. Die Leute sind frustriert, sie gehen nicht länger auf die Strasse.»
Das Vertrauen in die politischen Parteien oder die Gewerkschaften ist mit rund 8 Prozent sehr tief. Nicht besser kommen internationale oder westliche Institutionen weg: die EU, die UNO, die OSZE oder der Internationale Währungsfonds (IWF). Überhaupt ist das Misstrauen überall gross: «Wenn man in diesem System aufwächst, lernt man, niemandem zu vertrauen. Wenn man neue Nachbarn bekommt, sorgt man dafür, dass sie Angst vor einem haben», sagt ein Befragter.
«Alle wollen nur Geld verdienen.»
Doch rund 90 Prozent der jungen Russen sind gemäss der Umfrage mit ihrem privaten Leben, mit ihren Familien und ihren Freunden zufrieden. Und sie blicken für sich auch zuversichtlich in die Zukunft: 81 Prozent sagen, dass in zehn Jahren alles besser sein wird. Kommt die Rede jedoch auf die russische Gesellschaft und den Staat, fällt die Zuversicht regelrecht in sich zusammen: Nur 40 Prozent sind sicher, dass es besser wird. Jeder Fünfte ist sogar überzeugt, dass die Lage schlechter wird in Russland.
Viele kümmern sich deshalb nur um ihre eigenen Angelegenheiten: «Die Leute interessieren sich vor allem für Geld», sagt ein junger Befragter. «Alle wollen nur Geld verdienen. Ich kennen niemanden, der grosse Träume hat.»
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