Schweizer Regierung «extra muros»Der Bundesrat wird überhäuft mit Lob und Dank
Um die Impfoffensive zu verabschieden, reiste die Regierung am Mittwoch nach Luzern. Wir berichteten live.
Das Wichtigste in Kürze:
Der Bundesrat hielt seine heutige Sitzung nicht im Bundeshaus ab, sondern an der Hochschule für Musik in Luzern.
Er hat dort Entscheide zur Corona-Impfoffensive gefällt.
Getagt wurde ab 9 Uhr. Um 12.30 Uhr gab es einen Apéro für die Bevölkerung im Verkehrshaus.
Massnahmenkritiker haben zu einer unbewilligten Demonstration nebenan auf der Lido-Wiese aufgerufen.
Nach 30 Minuten rauschen sie ab
Gut eine halbe Stunde lang mischen sich die sechs anwesenden Bundesratsmitglieder unters Volk und posieren für Selfies, hören sich Lob, Kritik und persönliche Schicksale an - doch dann geht es bereits weiter: Die Luzerner Kantonsregierung lädt die Landesregierung zum gemeinsamen Mittagessen.
Beim Essen nicht mehr dabei ist Alain Berset. Der Gesundheitsminister sitzt bereits in seiner Limousine und wird zurück nach Bern chauffiert – dort muss er um 15.30 Uhr vor die Medien treten. Die nächste Corona-Pressekonferenz, an der Berset die neusten Entscheide zur Pandemie verkünden soll. Thema dieses Mal: die Entscheide zur nationalen Impfoffensive, mit welcher der Bundesrat in den nächsten Wochen die Impfquote noch einmal nach oben treiben will.
«Diese Leute arbeiten so viel für unser Land»
Beim Apéro im Verkehrshaus, in der Raum- und Luftfahrthalle, haben sich die Besucherinnen und Besucher unter den Flugzeugen versammelt, die von der Decke der Halle hängen. Es sind ältere Menschen gekommen und jüngere, Familien mit Kinder und Pensionäre, und was im Gespräch ziemlich rasch klar wird: Die meisten Anwesenden unterstützen den Bundesrat.
«Diese Leute arbeiten so viel für unser Land und werden dafür auch noch ständig kritisiert», sagt die Rentnerin Heidi Brunner (82) aus Meggen LU. Sie ist ins Verkehrshaus gekommen, weil sie noch nie einen Bundesrat von so nahe erlebt habe – und weil sie die Regierung unterstützen wolle. Sicher seien den Bundesräten in der Corona-Pandemie auch Fehler unterlaufen. «Aber wir müssen als Land zusammenstehen. Und darum bemüht sich der Bundesrat sehr.»
Parmelin: «Ich freue mich rüdig»
Parmelin erobert die Herzen der Luzernerinnen und Luzernern schon mit dem ersten Satz. «Ich freu mich rüdig, hier in Luzern zu sein», sagt der Waadtländer auf Deutsch. Der heutige Tag bringe ein weiteres Stück Normalität zurück, indem der Bundesrat die Tradition seiner Auswärts-Sitzungen in verschiedenen Regionen der Schweiz wieder aufnehmen könne.
Parmelin appelliert in seiner kurzen Ansprache an die gegenseitige Toleranz. Man müsse in dieser Phase der Pandemie nun «gemeinsam Lösungen finden». Meinungsverschiedenheiten müssten «im schweizerischen Geiste» ausgetragen werden, das heisst: «Engagiert, aber mit gegenseitigem Respekt».
Die Bundesräte nehmen den Lieferanteneingang
Die rund 50 Demonstrantinnen und Demonstranten vor dem Verkehrshaus warten vergeblich. Zwar haben rund zehn Polizisten in schwerer Montur vorsorglich die Strasse abgesperrt. Für alle Fälle ausgerüstet mit Tränengas und Pefferspray. Doch kurz nach 12.30 ziehen die Polizisten plötzlich ab. Die Einsatzleitung hat entschieden, die Mitglieder des Bundesrats durch einen Lieferanteneingang ins Museum zu führen.
Dort beginnt wenig später der angekündigte Volksapéro mit den obligaten Grussworten von Stadt- und Kantonsbehörden sowie von Bundespräsident Guy Parmelin. Rund 200 Menschen haben es ins Innere des Gebäudes geschafft, nachdem sie ihr Covid-Zertifikat gezeigt haben und Polizisten ihre Taschen durchsucht haben.
An der Decke über der Gesellschaft hängen antike Flugzeuge und Helikopter, verpflegt werden sie mit Wein, Bier und Häppchen.
Rimoldi will mit den Bundesräten reden
Auch die beiden Co-Vorsitzenden der Massnahmen-kritischen Gruppierung Mass-Voll, Nicolas Rimoldi und Viola Rossi, haben sich vor dem Verkehrshaus eingefunden. Rimoldi betont zwar, dass er selber nur an bewilligten Demos teilnehme. Er sei nur hier, um mit den Bundesräten ins Gespräch zu kommen. «Zur Bevölkerung gehören auch die ohne Zertfikat», sagt Rimoldi.
Zirka 50 Demonstranten warten auf den Bundesrat
Inzwischen ist die Bundesratssitzung in Kriens beendet, demnächst soll die Landesregierung ins Verkehrshaus fahren. Mehrere hundert Personen haben das Gelände bereits betreten, weil sie am Apéro teilnehmen möchten, zu dem der Bundesrat eingeladen hat. Eingelassen werden - wie in jedem Museum - nur Personen mit Covid-Zertifikat.
Vor dem Eingang haben sich inzwischen auch rund 50 Demonstranten eingefunden, die gegen die Corona-Politik des Bundesrats protestieren. Sie halten Schilder mit Slogans wie «A.B. Können Sie noch in den Spiegel schauen» oder «Fertig mit den Lügen». Zur unbewilligten Demo haben Unbekannte aufgerufen.
«Man hört oft nur die lauten Stimmen»
Ausgerechnet Luzern also. In der Zentralschweiz war schon der Widerstand gegen die frühen Corona-Schutzmassnahmen ausgeprägt gewesen. Und aus Luzern stammt auch einer der lautesten Gegner der Zertifikatspflicht, Nicolas A. Rimoldi. Auf dem Messenger-Dienst Telegram kritisierte der Präsident des Vereins Mass-Voll das Treffen der Landesregierung mit der Bevölkerung. Dass dabei nur Menschen mit Covid-Zertifikat teilnehmen könnten, sei «unethisch und spaltend»: «Ungeimpfte und Ungetestete gehören gleich zur Bevölkerung wie Geimpfte.»
Vor dem Verkehrshaus, auf der Lido-Wiese, haben andere Massnahmen-Gegner zur unbewilligten Demonstration aufgerufen. In einigen Chats haben Leute gedroht, faule Eier, Tomaten und selbst Steine gegen Bundesräte werfen zu wollen. Eine Gegendemonstration bei einem Apéro des Bundesrats, offene Gewaltdrohungen: Das ist neu.
Trotzdem will die Landesregierung am Treffen festhalten. «In Krisenzeiten», sagt Bundespräsident Guy Parmelin, «sind Treffen mit breiten Kreisen der Bevölkerung noch wichtiger als sonst.» In der Corona-Debatte höre man oft nur die lauten Stimmen. Der heutige Anlass sei eine gute Gelegenheit, auch die «ruhigen Stimmen» zu hören, von denen es im Land sehr viele gebe. Kritik sei immer erlaubt. «Hass und Gewalt sind aber nie in Ordnung.»
Musik-Studierende unter Polizeischutz
In der Musik-Hochschule herrscht heute der Ausnahmezustand. Das Sicherheitsaufgebot ist hoch: Kantonspolizisten, Sondereinsatzkräfte der Militärpolizei im Kampfanzug und Personenschützer in Zivil sind vor und im Schulgebäude omnipräsent - Ausdruck der derzeit angespannten Stimmung im Land. Die Studierenden mussten beim Betreten ihrer Hochschule teilweise die Handtaschen und Rücksäcke öffnen und durchsuchen lassen.
Einer fehlt
Der Bundesrat tagt heute in reduzierter Besetzung: Finanzminister Ueli Maurer fehlt. Statt an den temporären Regierungssitz nach Kriens reiste der SVP-Bundesrat nach Washington DC an die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und an das Finanzministertreffen der G-20. Dort würden heute die «finalen Diskussionen» um die künftige Ausgestaltung der Unternehmensbesteuerung stattfinden, sagt Parmelin.
Tatsächlich wird erwartet, dass die G-20-Staaten sich heute auf eine globale Mindeststeuer für Unternehmen einigen – ein Entscheid, der die Schweiz und die Steuereinnahmen von Bund und Kantonen potenziell grosse Auswirkungen haben könnte. Darum habe es der Bundesrat wichtig gefunden, dass Maurer dort persönlich anwesend sei, sagt Parmelin.
Und wer sorgt für die Begleitmusik? Sommaruga!
Dann ist Parmelins kurze Pressekonferenz vorbei und der Bundespräsident fährt – von Sicherheitspersonal eskortiert – im Lift in der Musik-Hochschule ein paar Stockwerke höher. Dort warten seine Kollegen und Kolleginnen bereits in einem Musikzimmer, das zum temporären Bundesratszimmer umfunktioniert wurde.
Im Hintergrund stehen ein Piano und ein Schlagzeug, davor sitzen die Bundesratsmitglieder, der Bundeskanzler und die zwei Vizekanzler an weiss gedeckten Tischchen mit bemerkenswert wenig Platz für ihre Unterlagen.
Die Journalistinnen und Journalisten dürfen vor Sitzungsbeginn kurz rein, um Fotos zu machen. Wer spielt das Klavier?, fragt einer. «Sommaruga!», antwortet Justizministerin Karin Keller-Sutter wie aus der Pistole geschossen. Die Umweltministerin antwortet ebenso schlagfertig: «Erst am Schluss, je nach Ausgang der Sitzung. Ein Requiem.»
Mit Trompeten und zwei Minibussen
Heute findet sie also statt, die erste Sitzung des Bundesrats ausserhalb von Bern seit zweieinhalb Jahren – seit Beginn der Pandemie. Die Vorzeichen also: speziell. Das Sicherheitsaufgebot rund um den für Mittag geplanten Apéro mit der Bevölkerung: gross.
Kurz vor 8.30 Uhr fährt die Landesregierung vor dem Neubau der Luzerner Hochschule für Musik in Kriens vor. Sie tut das auf sehr schweizerische Weise: in zwei Minibussen, denen ein Mitglied des Bundesrats nach dem anderen entsteigt, manche ohne Maske (Guy Parmelin), andere mit (Ignazio Cassis). Vor dem Eingang zur Schule werden sie von schwarz gekleideten Musikerinnen und Musikern empfangen – mit Trompeten.
Musik, das ist auch das Thema, das sich der Bundesrat für den Tag gesetzt zu haben scheint – und das bereits für einige Kalauer herhalten muss. «Ich hoffe, die Sitzung verläuft in Harmonie», sagt Bundespräsident Guy Parmelin vor Beginn der Sitzung zu den Medien. Der aktuelle Bundesrat sei eine musikalische Regierung.
Der Waadtländer meint damit aber nicht etwa die ausgebildete Konzertpianistin Simonetta Sommaruga, sondern sich selbst: Er habe ja früher selbst mal Gitarre gespielt. Den Tagungsort in einer Musik-Hochschule ausgewählt habe aber Sommaruga.
Dass die Landesregierung erstmals seit langer Zeit wieder an einem anderen Ort tagen könne, dass sie sich danach mit der Bevölkerung zum Apéro treffen könne: «Das bringt uns ein weiteres Stück Normalität zurück.»
Bundesrat entscheidet in Luzern über Impfoffensive
Zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie fällt der Bundesrat seine Corona-Entscheide ausserhalb des Bundeshauses. Heute Mittwoch hält er seine wöchentliche Regierungssitzung ab 9 Uhr in Luzern ab. Im Anschluss lädt er die Bevölkerung zu einem Apéro ein. Dieser findet ab zirka 12.30 Uhr im Verkehrshaus statt; für den Zutritt ist ein gültiges Covid-Zertifikat erforderlich.
Doch auch Massnahmenkritiker wollen nach Luzern kommen. In den sozialen Medien rufen Unbekannte zu einer unbewilligten Demonstration direkt neben dem Verkehrshaus auf - unter dem Motto «Luzern sagt Nein zu Zertifikat & Dauerwelle».
Tatsächlich wird der Bundesrat an dieser sogenannten «Extra muros»-Sitzung auch neue Corona-Entscheide fällen. Konkret soll er die Massnahmen zur geplanten Impfoffensive definitiv verabschieden, die er am 1. Oktober in eine Konsultation geschickt hat.
Teile dieser Impfoffensive stossen jedoch auf starken Widerstand bei den Kantonen - daher ist derzeit offen, ob der Bundesrat sie wie geplant beschliessen wird. Über seinen Entscheide informieren wird der Bundesrat voraussichtlich erst am Mittwochnachmittag nach seiner Rückkehr nach Bern im Rahmen einer Medienkonferenz.
Zuletzt 2019 im Kanton Zürich
Extra-muros-Sitzungen führt die Landesregierung seit 2010 regelmässig durch, in der Regel mindestens einmal pro Jahr. Der Bundesrat wolle damit «seine grosse Verbundenheit mit den verschiedenen Regionen unseres Landes zum Ausdruck bringen», schreibt die Bundeskanzlei in einer Mitteilung. Die letzte derartige Sitzung fand 2019 im Kanton Zürich statt, 2020 fiel sie wegen der Pandemie aus.
Ein Apéro mit der Bevölkerung gehört bei diesen Regierungsausflügen zum fixen Programm. In der Regel finden diese Anlässe in entspannter Atmosphäre und mit bloss minimalen Sicherheitsaufgebot statt. Angesichts der momentan teilweise aggressiven Stimmung in der Bevölkerung ist in Luzern aber mit einem bedeutenden Sicherheitsaufgebot zu rechnen.
Schon ihr letztes Bundesrats-Reisli am 1. Juli konnte die Landesregierung nur unter starkem Polizeischutz durchführen. (hä/cas)
hä/cas/sda/red
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