Didier Eribon über seine MutterDas schlechte Gewissen eines «schlechten Sohns»
Der französische Intellektuelle skandalisiert im Buch «Eine Arbeiterin» die Zustände in den Pflegeheimen und bricht eine Lanze für die Interessen der alten Menschen.

Didier Eribon ist ein französischer Star-Intellektueller in der Nachfolge von Sartre, Foucault und Bourdieu. Sein Buch «Rückkehr nach Reims» (2009) hat auch im deutschen Sprachraum (die Übersetzung erschien 2016) Furore gemacht: Es galt als Blaupause für einen neuen Typus der Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, der den autobiografischen Blick mit soziologischen Kategorien kombinierte.
Eribon macht allerdings keinen Hehl daraus, dass er sich methodisch an das grosse Vorbild der Schriftstellerin Annie Ernaux anlehnt. «Rückkehr nach Reims» erzählt vom Aufwachsen des Autors im proletarischen Milieu Nordfrankreichs, seiner zunehmenden Distanz als Homosexueller und Intellektueller zu diesem Milieu. Zugleich konstatiert er entsetzt das Abdriften der ursprünglich links wählenden Schicht zur rechtsnationalen Le-Pen-Bewegung.
In diesem Frühjahr ist «Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben» erschienen. Diese Arbeiterin ist Didier Eribons Mutter, von der wir schon aus dem Vorgängerbuch einiges wussten: unehelich geboren, der Vater ein «Gitano», der sich bald davonmachte; im Waisenhaus aufgewachsen, Dienstmädchen, Putzfrau, Fabrikarbeiterin, früh verheiratet, vier Söhne.
«Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich», heisst es im neuen Buch. Eribons Mutter ist 2017 gestorben, 87-jährig, nach sieben Wochen in einem Altersheim, in dem sie schlecht versorgt wurde und in dem sie der Sohn nur zweimal besucht hatte, am Tag der «Einlieferung» und dem Tag danach. Er wollte öfter kommen, aber es stand eine Reise nach Italien an, dann Vorträge in Deutschland. Die Anrufe der Mutter, in denen sie klagte, sie dürfe nicht aufstehen, die Windeln würden nicht gewechselt, alarmierten ihn nicht. Dann ist sie tot.
Zur Beerdigung geht er nicht. Aber er schreibt dieses Buch, versucht, sich der Person, die seine Mutter war, im Nachhinein anzunähern, sie besser zu verstehen, als es ihm zu Lebzeiten möglich war, als er zu sehr mit der Loslösung aus dem familiären Umfeld beschäftigt war. Er reflektiert eigene Versäumnisse, auch seinen Egoismus. Ein «schlechter Sohn» sei er gewesen.
Aber ein Sohn immerhin: Und so geht er daran, zu untersuchen, was es für ihn bedeutet hat, dieser Sohn dieser Mutter gewesen zu sein. Man darf von diesem Buch kein subtiles Psychogramm einer Person erwarten, wie das diverse Mutter-Romane in den letzten Jahren geleistet haben – dazu ist Eribon zu sehr Philosoph und Soziologe, und dazu ist er zu sehr mit der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Aufstiegs- und Distanzierungsgeschichte beschäftigt.
Der krasse Rassismus der Mutter
Es ist manchmal direkt rührend, wie er aus den Widersprüchen des eigenen Lebens in die soziologischen Begrifflichkeiten flieht – wobei für uns Leser dann gerade die Anschaulichkeit verloren geht. Dabei hat Eribon sehr wohl den Blick für das treffende Detail der Erinnerung wie auch einen geradezu dialektischen Humor. Da hat er sich zum Beispiel mühsam die Regionalismen seiner Herkunft aberzogen, die ihm peinlich waren. Und nun freut er sich über ein Lexikon des Champenois, weil er darin die Wörter findet, die seine Mutter gern gebrauchte.
Zum Vater hat er auch im Alter nie Zugang gefunden, da war auf beiden Seiten nur Unverständnis und Widerwille. Anders die Mutter, die er, als sie verwitwet war, regelmässig in Reims besuchte: «Wir fanden uns neu.» Die Mutter war seine Brücke zur Kindheit, in ihrer Erinnerung fand er die frühen Spuren seines Andersseins, seiner Abgrenzung vom familiären Milieu. Mit dem krassen Rassismus der Mutter kann er sich nicht abfinden; gehässig kommentiert sie jeden Auftritt eines farbigen Stars am Fernsehen. Da ist zwischen den beiden keine Diskussion, keine Verständigung möglich.
Nur ein – soziologischer – Erklärungsversuch. Ihren Stolz, weiss zu sein – was ja angesichts ihres «Gitano»-Vaters ein zweifelhafter Stolz ist –, begründet er durch ihre lebenslangen Diskriminierungserfahrungen: Die Verachtung Nichtweisser sei das einzige Überlegenheitsgefühl, das man ihr gesellschaftlich zugestanden habe.
Damit gehört die Mutter zum natürlichen Wählerpotenzial Marine Le Pens. Wie in «Rückkehr nach Reims» beklagt Didier Eribon auch hier das Verschwinden der organisierten, schlagkräftigen, weitgehend kommunistischen Arbeiterklasse, zu der seine Familie gehörte. Aber wo wäre denn heute deren soziale Basis? Die Fabrik, in der die Mutter gearbeitet hat, wo sie an Streiks teilgenommen hat, ist geschlossen. Eribon streift noch einmal durch das leere Gebäude; er erinnert sich an die mörderischen Arbeitsbedingungen, die dort herrschten. Dorthin zurück wollte auch niemand.
Pflegeheime voller Missstände
Die Mutter ist nicht gern ins Heim gegangen, sie hat sich darein geschickt, «man muss vernünftig sein». Es war ein staatliches Pflegeheim, personell völlig unterbesetzt. Hätte man für sie, immerhin waren da vier Söhne, nicht ein besseres finden können? Eribon, der sich nachträglich mit einschlägigen Studien beschäftigt, die von lange bekannten unhaltbaren Zuständen in diesen Heimen berichten, verweist darauf, dass in privaten, vermeintlich besser ausgestatteten Institutionen doch nur nach dem Profit geschaut werde. Ein Unbehagen bleibt doch, auch bei ihm.
Schuld sind, da spricht wieder der Soziologe: die Verhältnisse: «Meine Mutter wurde durch die Institution ‹Pflegeheim› misshandelt.» Die Pflegekräfte trifft keine Schuld, sie sind ebenfalls Opfer: «Das System ist unmoralisch.» Mit System meint er den Neoliberalismus, der alles, was nicht Profit bringt, also Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, kaputtspart. Die Verkörperung des Neoliberalismus aber ist Staatspräsident Macron. (Den hat seine Mutter anfangs gewählt, weil er so gut aussah; Kommentar des Sohnes: «Du hast einen schlechten Geschmack.»)
Eine Stimme für die Vulnerablen
Der Philosoph Eribon geht noch einen Schritt weiter als der Soziologe. Er stellt fest, dass der alte Mensch keinen Platz im Menschenbild der Philosophen hat. Denn diese setzen auf die Zukunft, auf den Entwurf, auf die Perspektive nach vorn. Genau diese hat der alte, der eingeschränkte, der behinderte Mensch nicht. Schon gar nicht die Freiheit, die etwa Sartre, einer der Helden Eribons, zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat.
Eine neue Philosophie, die den (sehr) alten Menschen in den Mittelpunkt rückt, entwirft Eribon in seinem Buch nicht. Er stellt nur das Defizit fest. Auch ein politisches Defizit. Denn was den Alten fehlt, ist auch die Möglichkeit, sich politisch zu artikulieren.
Damit kann er nicht die Rentner meinen, die demografisch inzwischen eine so starke Gruppe darstellen, dass gegen ihre Interessen politisch kaum mehr etwas entschieden werden kann. Sondern die «vulnerablen Alten» – jene, die vereinzelt in Heimen dahinsiechen, die dement sind, desorientiert, hilflos. Sie haben keine «pressure group», kein «Wir», das sich laut zu Wort meldet. Wer kann es für sie tun? Eribon ist zumindest einer, der die Frage stellt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.