Vorsorgemodell der anderen ArtFrau Herrli hilft Seniorin Reuter – die Stunden bekommt sie im Alter zurück
Statt für Geld arbeiten sie für Zeit: Rund 500 Freiwillige im Kanton St. Gallen assistieren älteren Personen im Alltag. Benötigen sie später selbst Hilfe, erhalten sie die investierte Zeit zurück.
Manchmal wird es laut in der kleinen Wohnung von Rosmarie Reuter: Wenn die Nachbarin oben die Stühle herumschiebt, der Nachbar nebenan die Türen knallen lässt. Reuter ist 77 Jahre alt, eine kleine, dünne Frau mit violett gefärbtem Haar und trockenem Humor. «Wenn sie mich zu sehr nerven», sagt sie und deutet nach oben, «dann nehm ich meinen Ferrari, und ab!» Sie pfeift durch die Zähne. Der Ferrari, das ist ihr weinroter Rollator, den sie seit ein paar Jahren besitzt.
Rosmarie Reuters Gang ist im Gegensatz zu ihrem Mundwerk langsam und zögerlich. Nach draussen schafft sie es aber trotzdem fast jeden Tag, obwohl sie einige Treppenstufen hinabmuss, um zur Haustür zu kommen. Dass das noch geht, hat viel mit der 22 Jahre jüngeren Frau zu tun, die jetzt neben Rosmarie Reuter steht und ihr in die Jacke hilft.
Manuela Herrli heisst sie, 55 Jahre alt, Tramchauffeurin und Mutter dreier erwachsener Kinder. «Ich hatte einfach ein bisschen Zeit übrig, und so kam ich zu Rosmarie», sagt sie. Die beiden Frauen treffen sich seit bald drei Jahren jede Woche. Meistens gehen sie einfach ein Stück zusammen, oft zum Einkaufen, wie heute.
Reuter und Herrli könnten Mutter und Tochter sein, aber sie sind nicht verwandt. Und obwohl sie nur drei Minuten voneinander entfernt in Rapperswil-Jona am Ufer des Zürichsees wohnen, haben sie sich vor ihrem ersten Treffen im Sommer 2021 noch nie gesehen.
Stunden im Ehrenamt werden gutgeschrieben
Zusammengebracht hat sie eine sogenannte Zeitbank. So heissen Vorsorgemodelle, die statt mit Geld mit Zeit arbeiten. Leute wie Manuela Herrli vergeben ihre Zeit an ältere Menschen wie Rosmarie Reuter, die einsam sind oder Beistand im Alltag brauchen. Im Unterschied zu einem normalen Ehrenamt werden Herrli die geleisteten Stunden gutgeschrieben. Später, wenn sie womöglich selbst Hilfe benötigt, kann sie die angesparte Zeit einlösen.
Die Idee, Zeit gegen Zeit zu tauschen, ob zeitgleich oder zeitversetzt, gibt es schon seit Jahrhunderten. Das Charmante daran: Zeit ist eine inflationsfreie Alternativwährung, eine Stunde bleibt eine Stunde, egal, ob heute oder in 20 Jahren. Es gibt in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich zahlreiche Vereine und Zeitbörsen, die dieses Prinzip für Nachbarschaftshilfe oder eben für die Betreuung von Senioren nutzen.
Stunden können später eingelöst werden
Manuela Herrli hat ein Konto bei der schweizerischen Stiftung Zeitvorsorge, die bislang in St. Gallen und Rapperswil-Jona tätig ist. Etwa 250 Stunden hat sie darauf schon angesammelt. Das Besondere an der 2011 gegründeten Stiftung: Erstens zielt sie bewusst auf Freiwillige wie Herrli, die selbst schon auf das Pensionsalter zugehen. Die Angehörigen dieser Gruppe haben oft Zeit übrig, weil sie in der Regel keine kleinen Kinder mehr haben und im Job nicht mehr so gefordert sind wie früher.
Zweitens und fast noch wichtiger: Die Stiftung sorgt dafür, dass die jeweilige Kommune das Einlösen der angesparten Stunden garantiert. Wenn es in Zukunft vielleicht nicht genug Freiwillige geben sollte oder das Projekt aus anderen Gründen nicht fortgeführt wird, verpflichtet sich die Kommune, dass die Stunden trotzdem im Sinne der Zeitvorsorge eingelöst werden können. Das Modell ist also keine reine Privatinitiative, sondern hat einen öffentlichen, verbindlichen Charakter.
Ihr einziger Sohn ist jung gestorben
Als Herrli und Reuter das Haus verlassen, tragen sie dicke Jacken, es ist ein grauer und kalter Januartag. «Wenn Manuela da ist, stört mich schlechtes Wetter nicht», sagt Reuter. Aber allein bei Regen oder Schnee? Das mache sie nicht. Wegen ihres Rollators kann sie ihren Schirm nicht selbst halten. Und auch sonst ist es für die zerbrechliche Frau im Strassenverkehr manchmal schwierig.
Nachdem sie vor etwa vier Jahren in ihrer Wohnung gestürzt war und stundenlang auf Hilfe hatte warten müssen, traute sie sich nicht mehr allein aus dem Haus. Angehörige in der Nähe, die sie hätten unterstützen können, hat Rosmarie Reuter keine mehr. Von ihrem Mann ist sie lange geschieden, ihr einziger Sohn ist jung gestorben. Es war der Diakon der reformierten Kirche in Rapperswil-Jona, der ihr schliesslich half. «Der Herr Herman hat mir das Wägeli hier gekauft. Und mich bei der Zeitbank angemeldet.»
Rund 500 Freiwillige haben ein Zeitsparkonto
Auch das ist ein wichtiger Bestandteil des Zeitvorsorgemodells: Vernetzung. Ein Anruf in St. Gallen bei Jürg Weibel, dem Geschäftsführer der Stiftung Zeitvorsorge. «Wir bringen Zeitbedürftige und Zeitspender aus den unterschiedlichsten Ecken zusammen», sagt er. Weibel hat das Zeitgutschriftensystem erfolgreich in St. Gallen und dann in Rapperswil-Jona etabliert, wacht über die Zeitkonten von fast 500 Freiwilligen und wirbt inzwischen auch bei anderen Gemeinden für die Einführung des Modells.
Für die Vermittlung der Zeittandems arbeitet die Stiftung eng mit ihren Partnerorganisationen zusammen, also Vereinen, Hilfsdiensten und Kirchen. So wie bei Rosmarie Reuter: Die Kirche wusste von Reuters Situation; eine andere Organisation in Rapperswil-Jona kannte Manuela Herrlis Wunsch, sich für ältere Menschen zu engagieren. «So soll es laufen», sagt Geschäftsführer Weibel. Das übergeordnete Ziel der Stiftung sei allerdings ein anderes und entspreche dem Wunsch fast aller älteren Menschen: «Wir möchten, dass sie so lange zu Hause leben können wie möglich», sagt Weibel.
Pflegesystem wird entlastet
Denn die Zahl der Alten nimmt zu in Europa. Den Seniorinnen und Senioren stehen immer weniger junge Menschen gegenüber, die Pflegesysteme sind heute schon überfordert und unterfinanziert. «Wir können hier eine Lücke füllen», ist Weibel überzeugt. Denn in der Schweiz können ältere Menschen zwar ambulante Hilfe für Körper- und Krankenpflege beantragen, es gibt auch Unterstützung im Haushalt. Aber beides kostet.
Und eine flächendeckende Anlaufstelle für die sozialen Bedürfnisse älterer Menschen fehlt bislang. «Die Zeitvorsorge hilft dabei, dass die Menschen psychisch länger gesund bleiben», sagt Weibel. Wer gesund bleibt, kann länger zu Hause wohnen. Und wer lange zu Hause wohnt, ist in der Regel nicht nur zufriedener, sondern entlastet am Ende auch das Pflegesystem.
Rosmarie Reuter hat sich auch schon provisorisch in Pflegeheimen angemeldet. «Aber solange ich noch vor mich hinwerkeln kann, will ich noch nicht.» Zweimal in der Woche kommen ambulante Pfleger und helfen ihr beim Duschen, einmal pro Woche kümmert sich jemand um den Haushalt, und am Sonntag bringt ihr ein Mahlzeitendienst das Essen. Den Rest macht sie allein – und ein bisschen mit Manuela Herrlis Hilfe.
Erst das Einkaufen, dann das Vergnügen
Als die Frauen im Einkaufszentrum angekommen sind, machen sie dort ihre übliche Tour. Erst zum Kiosk, wegen des Fernsehmagazins. Dann zur Migros, Lebensmittel kaufen. Im Einkaufskorb auf dem Rollator landen Chinakohl, Sauerkraut, Rollschinken. Reuter prüft die Gramm-Angaben, für sie dürfen die Packungen nicht zu gross sein. Zum Schluss holt sie noch eine Windelpackung aus dem Regal. «Ich bin eben nicht mehr ganz dicht», sagt sie mit einem Zwinkern.
Manuela Herrli begleitet Rosmarie Reuter, bevormundet sie aber nie. An der Kasse fragt sie leise, ob sie die Windeln separat abrechnen möchte, wegen der Krankenkasse. Reuter nickt, Herrli legt alles so aufs Band, dass es am Ende zwei Kassenzettel gibt, und hilft Reuter unauffällig beim Verstauen. «Nach der Arbeit das Vergnügen», sagt Reuter dann und steuert auf ein Café zu.
Hier trinken die zwei Frauen oft etwas nach dem Einkaufen. Heute teilen sie sich eine Cola Zero, prosten sich zu. Dabei besprechen sie dann, was so los war in der Woche «und ob dich wieder jemand geärgert hat, gell?», sagt Manuela Herrli. Es geht dann oft um die lauten Nachbarn. Manchmal möchte Reuter aber auch über früher sprechen, über ihre Eltern, die sie gepflegt hat, oder ihren Sohn, der mit 28 Jahren an einer Herzkrankheit starb.
Die Gespräche seien eigentlich das Wichtigste, erklärt Herrli später, sie habe Rosemarie erst einmal aus einem psychischen Tief holen müssen, seit sie sich kennen gelernt haben. Inzwischen sind sich die zwei Frauen so nah, dass Reuter schon zweimal mit Herrlis Familie Weihnachten gefeiert hat. «Es stimmt einfach zwischen uns», sagt Herrli, noch nie habe es Probleme gegeben. Da wirft Reuter grinsend ein: «Aber gehorchen tu ich auch nicht immer.» Herrli grinst zurück. «Hoffentlich nicht!»
Sie notiert jede Stunde
Welche Rolle spielt es für die beiden Frauen, dass Herrli mit den gemeinsamen Stunden quasi in ihre eigene Altersvorsorge einzahlt? «Ich finde es toll», sagt Reuter. Sie würde selber mitmachen, wenn sie noch jünger wäre. Ein eigenes Zeitkonto hat sie nicht. Weil das Modell noch relativ neu ist, erhalten die meisten Zeitbezieherinnen und -bezieher des Projekts momentan noch Stunden, ohne selbst welche angespart zu haben.
Das werde auch noch sehr lange so sein, sagt Jürg Weibel, der Geschäftsführer. Aber: In St. Gallen, wo die ersten Tandems im Jahr 2015 starteten, beziehen jetzt die ersten Zeitsparerinnen und -sparer Stunden von ihren eigenen Konten. Das Umlageverfahren funktioniert also.
Manuela Herrli sagt, dass ihr das Zeitkonto eigentlich nicht so wichtig sei. «Ich habe ja drei Kinder, wahrscheinlich brauche ich das Zeitguthaben gar nicht.» Trotzdem: Ihre Stunden notiert sie, lässt sie von Reuter gegenzeichnen und schickt sie alle paar Monate an Rajovita, die Rapperswiler Stiftung, die das Projekt im Auftrag der Kommune koordiniert. Ihr gefalle die Grundidee, sagt Herrli. «Vielleicht kann ich meine Stunden ja mal jemand anderem schenken?»
Zeitstunden fühlen sich nicht wie Almosen an
Tatsächlich würden viele Zeitvorsorgende gar nicht davon ausgehen, dass sie die Stunden einmal brauchen werden, erklärt Geschäftsführer Jürg Weibel. Die Zeitgutschriften seien aber eine schöne Form der Anerkennung und Sichtbarmachung ihrer ehrenamtlichen Arbeit. «Und was auch nicht unwichtig ist: Für die Empfängerinnen und Empfänger fühlen sich die gemeinsam verbrachten Stunden nicht wie Almosen an.»
Nach der Cola macht sich das Tandem Reuter-Herrli wieder auf den Nachhauseweg. Die Frauen unterhalten sich über Reuters kleine Terrasse, die sie im Frühling bepflanzen will. Und über die Schifffahrt, die sie einmal zusammen auf dem Zürichsee gemacht haben. «Das können wir ruhig mal wieder machen», sagt Reuter. Herrli lächelt und nickt. Für heute sind die zwei gemeinsamen Stunden um. Nächste Woche spart sie weiter.
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