Keine pauschalen ZurückweisungenDeutsche Regierung schreckt vor radikalen Massnahmen an der Grenze zurück
Migranten, für deren Asylgesuch Deutschland nicht zuständig ist, sollen künftig «innert Wochen» zurückgeschickt werden. Mehr lasse das geltende Recht nicht zu.
Die oppositionellen Christdemokraten hatten die Erwartungen so hoch gespannt, dass die deutsche Regierung diese eigentlich nur enttäuschen konnte: Deutschland solle ab sofort alle Migranten an seinen Grenzen zurückweisen, schliesslich seien diese zuvor ja durch sichere EU-Länder gereist, in denen sie bereits Asylanträge hätten stellen können, so die ultimative Forderung von CDU und CSU. Dass solche pauschalen Zurückweisungen gegen europäisches Recht verstossen, hätte die Opposition in Kauf genommen – schliesslich sei das Land in Not.
Dieser Sichtweise verweigerte sich die Regierung aber. Sozialdemokraten, Grüne und FDP schlagen stattdessen ein Verfahren vor, das Rückführungen an den deutschen Grenzen zwar deutlich beschleunigen soll – allerdings strikt innerhalb des geltenden nationalen und europäischen Rechts.
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will Migranten, für deren Asylverfahren wahrscheinlich ein anderes EU-Land zuständig ist – die sogenannten Dublin-Fälle –, künftig in der Nähe der deutschen Grenze festhalten. «Innert weniger Wochen» soll dann in einem stark beschleunigten Verfahren deren rechtsfeste Zurückweisung in die eigentlich zuständigen Länder vollzogen werden. Um zu verhindern, dass Asylsuchende einfach untertauchen, sollen sie auch in Haft genommen werden können.
«Keine nationalen Alleingänge, die Europa schaden»
Die Forderungen von CDU und CSU seien nicht nur mit dem geltenden Recht unvereinbar, meinte Faeser im Beisein von Aussenministerin Annalena Baerbock, sondern würden auch von den Nachbarn nicht akzeptiert. Deutschland werde keine «nationalen Alleingänge» unternehmen, die Europa schadeten.
Polen, Tschechien, die Niederlande und Österreich hatten zuletzt mit zunehmender Empörung auf die innerdeutsche Debatte reagiert, die die Christdemokraten nach Kräften angeheizt hatten. Österreichs Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) etwa hatte erklärt, sein Land werde in keinem Fall von Deutschland zurückgewiesene Migranten selbst übernehmen.
CDU-Chef Friedrich Merz wiederum reagierte am Dienstagabend hart auf den Vorschlag der Regierung: «Die Ampel kapituliert vor der Herausforderung der irregulären Migration.» Sie sei offensichtlich handlungsunfähig. Alexander Dobrindt von der CSU schob die Schuld dafür den Grünen in die Schuhe.
Viele deutsche Verfahren dauern heute viel zu lange
Bisher weist die deutsche Bundespolizei Einreisende an den deutschen Grenzen nur zurück, wenn diese keinen gültigen Aufenthaltstitel haben oder ein Einreiseverbot gegen sie vorliegt. Wer hingegen um Asyl in Deutschland bittet, kann grundsätzlich einreisen, um ein Gesuch zu stellen – selbst wenn vermutlich ein anderes Land der EU dafür zuständig wäre. Oft dauern die deutschen Verfahren dann aber so lange, dass eine Zurückweisung irgendwann nicht mehr möglich ist.
Wie viele Migrantinnen und Migranten von dem neuen, beschleunigten Verfahren betroffen sein könnten, lässt sich allenfalls schätzen. Laut der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» geht man in Brüssel davon aus, dass drei Viertel der Menschen, die in Deutschland zuletzt einen Asylantrag stellten, zuvor weder in einem anderen EU-Land mit ihren Fingerabdrücken registriert worden waren noch in einem anderen Mitgliedsstaat um Asyl ersucht hatten. Höchstens ein Viertel wären also Dublin-Fälle.
2023 verzeichnete Deutschland rund 330’000 Asylgesuche, in den ersten acht Monaten dieses Jahres 160’000. Im ersten Halbjahr 2024 hat Deutschland in 37’000 Fällen andere EU-Staaten ersucht, Migranten zu übernehmen, für die diese nach den Dublin-Regeln zuständig wären. Wirklich überstellt wurden nur 3000.
Schon jetzt wird jeder Zweite zurückgewiesen
Innenministerin Faeser betonte, die Zahl der Zurückweisungen an den deutschen Grenzen habe in den vergangenen Monaten auch ohne das neue Verfahren bereits stark zugenommen. Seit die deutsche Polizei die von der irregulären Migration am meisten betroffenen Grenzen zu Österreich, der Schweiz, Tschechien und Polen systematisch kontrolliert, sei es bereits zu mehr als 30’000 Zurückweisungen gekommen.
Laut Statistik wurde im ersten Halbjahr 2024 jede zweite Person, die über diese Grenzen einreisen wollte, zurückgeschickt. Letztes Jahr war es insgesamt nur jede vierte gewesen. An der deutschen Grenze zur Schweiz verdoppelte sich die Zurückweisungsquote im Laufe des letzten Jahres ebenfalls: Laut Zahlen der Bundespolizei in Stuttgart zählten die deutschen Behörden im ersten Halbjahr 2023 noch rund 2400 Zurückweisungen pro Quartal, im zweiten Halbjahr waren es bereits je rund 5200.
Migrantinnen und Migranten bitten an den seit Oktober 2023 intensiver kontrollierten deutschen Grenzen auch deutlich seltener um Asyl als zuvor: 2023 taten sie das noch in 44 Prozent der Fälle, im laufenden Jahr fiel diese Quote auf 23 Prozent. An der Grenze zu Polen war der Rückgang besonders frappant: Wurden im ersten Quartal 2023 noch 2300 Asylgesuche gestellt, waren es zu Beginn dieses Jahres nur noch 450.
Die Linken-Politikerin Clara Bünger kann sich den Rückgang und die starke Zunahme bei den Zurückweisungen nur mit der Vermutung erklären, dass die Polizei Asylwünsche zunehmend ignoriere. Aktivisten, die Migranten bei der Einreise helfen, werfen der Regierung schon länger illegale «Pushbacks» an der Grenze vor – einen Vorwurf, den die deutschen Behörden bestreiten.
Für Aufsehen sorgte im Juni allerdings der Fall einer afghanischen Familie, die über Polen nach Deutschland eingereist war, dort ein Asylgesuch stellen wollte, in Polen aber bereits um Schutz ersucht hatte. Die deutsche Polizei brachte die Afghanen kurzerhand in ein polnisches Dorf zurück – ein Vorgehen, das dort für Empörung sorgte.
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