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Analyse zur Flucht aus der Ukraine
Deutsche Willkommenskultur 2.0

Sie lernen schon Deutsch: Zwei ukrainische Mädchen besuchen in Berlin eine private Primarschule. 250 neue «Willkommensklassen» sollen in der 3,7-Millionen-Metropole jetzt schnell eröffnet werden.
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Wieder kennt die Hilfsbereitschaft an deutschen Bahnhöfen keine Grenzen. 2015 wurde München zum Epizentrum dessen, was deutsche Medien als «Willkommenskultur» feierten: Entkräftete, junge Männer, die vor dem endlosen Krieg in Syrien geflüchtet waren, wurden mit Applaus, Blumen und Teddybären in Deutschland begrüsst.

Diesmal wird Berlin zur Frontstadt: Täglich treffen aus Polen viele Tausende Ukrainerinnen mit ihren Kindern ein und werden mit offenen Armen aufgenommen. Wie 2015 wird die Hauptarbeit nicht vom Staat, sondern von Freiwilligen geleistet. Wer mit diesen spricht, hört, dass viele von ihnen damals bereits Syrern, Irakern und Afghanen beistanden.

Die weit und dicht gespannten Netzwerke von damals – laut Umfragen half 2015/16 jede vierte und jeder vierte Deutsche mit – halten jetzt auch jene Menschen, die neu ankommen. Auch den Behörden kommt vieles bekannt vor. «Ämter, Schulen, Flüchtlingsorganisationen – alle haben ein Déjà-vu», sagt der Ökonom Herbert Brücker, einer der kundigsten deutschen Migrationsforscher.

Menschen auf Durchreise: Ukrainerinnen und Ukrainer verpflegen sich im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs, bevor viele von ihnen in Deutschland oder in weitere Länder weiterreisen. 

Allein in Berlin gibt es derzeit noch mehr als 500 «Willkommensklassen», in denen 6000 geflüchtete Mädchen und Buben Deutsch lernen, bevor sie in den regulären Unterricht kommen. Für die ukrainischen Kinder sollen jetzt schnell 250 neue «Willkommensklassen» eröffnet werden. Die meisten Schulen wissen noch, wie es geht.

Auch Politik und Verwaltung haben seit 2015 dazugelernt. Angesichts des Leids in der Ukraine hat die Europäische Union erstmals einer pauschalen, zeitlich befristeten Aufnahme von Flüchtlingen zugestimmt. Fachleute nennen die Entscheidung «historisch», eine «Kehrtwende um 180 Grad»: Im Unterschied zu den Syrern damals müssen die Menschen aus der Ukraine nicht individuell Asyl beantragen, dürfen sich ihre Zufluchtsländer und -orte aussuchen, können gleich arbeiten und werden sofort unterstützt. Das entlastet den Staat von Bürokratie.

Verteilung und Unterbringung bleiben aber eine gewaltige Herausforderung. In Deutschland drängen die Ukrainerinnen bis jetzt vor allem in die grossen Städte, in denen Wohnungen bereits rar sind, in Europa in die Nachbarländer der Ukraine sowie nach Deutschland. Experten wie Gerald Knaus fordern jetzt grossangelegte Luftbrücken von der ukrainischen Grenze direkt nach Spanien, Portugal oder Frankreich. Selbst in Deutschland kommt die Verteilung in andere Bundesländer erst langsam in Gang.

Temporäre Strukturen an bekanntem Ort: Auf dem ausser Betrieb genommenen Flughafen Berlin-Tegel entstehen gerade Registrierungs- und Unterbringungsmöglichkeiten für Tausende von Geflüchteten.

8 bis 10 Millionen Menschen könnten die Ukraine bald verlassen haben, schätzt die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock. Knaus spricht von der «grössten humanitären Krise in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg». Die Zahl der nach Deutschland Geflüchteten wird einen Monat nach Kriegsbeginn auf mindestens 250’000 geschätzt. 2015/16 kamen innert 10 Monaten mehr als eine Million Menschen aus dem Nahen Osten. Sollte der Krieg in der Ukraine lange andauern und die Aufnahmefähigkeit Polens oder Rumäniens versiegen, könnten am Ende durchaus doppelt so viele Menschen in Deutschland Zuflucht suchen wie vor sieben Jahren.

Angesichts der Flucht aus der Ukraine hat – anders als nach dem Fall Kabuls oder dem Brand des Flüchtlingslagers von Moria – bisher noch kein deutscher Politiker gewarnt, dass sich «2015 nicht wiederholen» dürfe. Niemand glaubte bisher, das Land mit einem merkelschen «Wir schaffen das» ermutigen zu müssen. Anders als 2015 ist die Aufnahme der Menschen aus der Ukraine politisch unumstritten. Selbst die AfD polemisiert bislang höchstens dagegen, dass neben den Ukrainerinnen auch afrikanische oder arabische Studenten Kiew oder Charkiw in Richtung Deutschland verlassen.

Politik auf Augenhöhe: Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht am Berliner Hauptbahnhof mit geflüchteten Ukrainerinnen.

Der Schock des russischen Überfalls, die Nähe der Not und die Tatsache, dass anders als 2015 vor allem Frauen und Kinder aus einem nahen Kulturkreis Zuflucht suchen, sorgen fürs Erste für allgemeine Akzeptanz. Das braucht nicht so zu bleiben. Je länger der Krieg andauert und die Menschen nicht, wie gewünscht, zurückkehren können, umso mehr sind Verteilungskonflikte möglich.

Anders als die jungen Syrer oder Iraker von damals werden die Ukrainerinnen nicht monate- oder jahrelang in Asylunterkünften oder bei Gastfamilien untergebracht werden können, sondern brauchen bald richtige Wohnungen. Die sind aber in Deutschland dort am seltensten, wo es viele Arbeitsplätze gibt. 10’000 Euro, so wird geschätzt, kostet die Erstunterbringung und Versorgung den Staat pro Person. Bei 100’000 Menschen summiert sich das bereits auf eine Milliarde.

Deutschland ist ein reiches Land und kann sich diese Ausgabe leisten. Und vielleicht ist es ja gerade umgekehrt: Während Länder wie die USA und Grossbritannien für Milliarden Waffen an die Ukraine liefern, könnte Deutschlands entscheidender Beitrag im Kampf gegen Wladimir Putins Krieg genau darin bestehen, möglichst vielen Opfern zeitweilig Zuflucht zu bieten.

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