Berlin empfängt ukrainische FlüchtlingeAm Bahnhof gibt es Essen, Babykleider und eine SIM-Karte
Mehr als 10’000 Menschen kommen derzeit täglich in der deutschen Hauptstadt an. Obwohl es zehnmal so viele sind wie 2015, bewältigt Berlin die Lage besser als damals.
Eine Frau hält blaue Rosen in der Hand und wartet auf den Zug aus dem polnischen Breslau. Die Berlinerin Mitte 50 arbeitet in einer internationalen Beratungsfirma, die einen Ableger in der Ukraine unterhält. 100 ukrainischen Frauen und ihren Kindern verhilft das Personal nun privat zur Flucht, auch nach Deutschland.
Als der Zug mit einer Stunde Verspätung einfährt und Hunderte Menschen aussteigen, werden sie von Durchsagen auf Ukrainisch begrüsst. Es dauert nur einen Moment, dann haben sich die Berlinerin mit den Rosen und die Frau aus Kiew mit ihren Kindern gefunden. Vielen anderen geht es gleich. Wer nicht erwartet wird, den geleiten Dutzende von freiwilligen Helferinnen und Helfern in den Untergrund des Berliner Hauptbahnhofs.
Alle Helfenden tragen gelbe Warnwesten, rote Westen zeichnen jene aus, die Russisch sprechen. In der 3,7-Millionen-Stadt beherrschen mehrere Hunderttausend Menschen die Sprache. An improvisierten Ständen erhalten die Ankommenden innert Kürze und gratis alles Nötige: Essen und Trinken, deutsche SIM-Karten für die Handys, Corona-Tests oder -Impfungen und Billette für die Weiterreise – in Deutschland oder in die Nachbarländer.
Handgeschriebene Schilder informieren in kyrillischer Schrift über Busse nach Mönchengladbach, Halberstadt oder Bad Segeberg. Wer sich für eine Reise entscheidet, wird von Freiwilligen direkt zum Bus oder Zug gebracht. Alle zwei, drei Stunden fährt ein Charter mit 100 Menschen direkt nach Paris, 12 Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus. Das Angebot ist beliebt. Dabei leben in Frankreich bisher nur 18’000 Menschen aus der Ukraine, kaum mehr als in der Schweiz (11’000). In Italien sind es 240’000, in Deutschland mindestens 320’000.
Berlin ist zu einer wichtigen Drehscheibe für alle jene Ukrainerinnen geworden, die nicht in Polen, der Slowakei oder Ungarn bleiben wollen, sondern weiter in den Westen drängen. Sei es, weil sie dort Familie, Freunde oder Bekannte haben, sei es, dass sie nicht an eine schnelle Rückkehr in ihre Heimat glauben. Rund zwei von drei Ankommenden ziehen derzeit von Berlin aus weiter, schätzt das Sozialamt.
Seit Ende letzter Woche kommen per Zug Tag für Tag 10’000 Menschen aus der Ukraine in Berlin an, 13’000 waren es am vergangenen Sonntag. Das sind so viele, wie im Herbst 2015 in der Spitze aus Syrien und dem Irak in München anlangten – und zehnmal so viele, wie damals täglich in Berlin eintrafen. Aber selbst damit war die Hauptstadt damals vollkommen überfordert.
Vor dem Landesamt für Flüchtlinge standen sich die jungen Syrer in der Kälte tagelang die Beine in den Bauch, dessen Abkürzung «Lageso» wurde in ganz Deutschland zu einem Synonym für die skandalöse Überforderung einer dysfunktionalen Verwaltung. Chaotisch sieht es in Berlins Ankunftsräumen jetzt wieder aus, doch diesmal wird schnell und unkompliziert geholfen. Natürlich hilft es, dass die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kein Asyl beantragen müssen, sondern aufgrund einer EU-weiten Entscheidung, einmal registriert, sofort Anrecht auf Aufenthalt und Unterstützung haben.
Aber auch die Berliner Behörden haben aus dem Fiasko von 2015/16 gelernt. Jeden Tag stellt die Verwaltung nun freie Unterkünfte für 1000 Menschen bereit, in neuen Asylzentren, bei sozialen Anbietern oder in Hotels. Die neue Regierung um Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) zeigt sich zupackend. Langsam setzt auch die Unterstützung der anderen Bundesländer ein.
Berlin schickt Flüchtende, die nicht bei Privaten unterkommen und nicht in der Hauptstadt bleiben wollen, nach Nordrhein-Westfalen oder Bayern weiter. Der sogenannte Königsteiner Schlüssel regelt die Verteilung, die aber erst richtig in Gang kommen muss. Züge aus Polen und Tschechien enden neuerdings nicht mehr alle in Berlin, sondern werden in andere, noch wenig belastete Städte umgeleitet. Auf dem Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs, in Sichtweite zu Bundestag und Bundeskanzleramt, entlastet demnächst ein Grosszelt die improvisierten Strukturen.
Die Hilfsbereitschaft in der Stadt ist so überwältigend wie 2015. Viele, die jetzt wieder freiwillig anpacken, halfen schon damals. Bei den Wachleuten und hinter den Ständen kann man zuweilen auch syrische Gesichter sehen – die der Flüchtlinge von damals. Ein junger Mann aus Nepal, der als Kind in Berlin Zuflucht fand, hält die Hilfe für ganz selbstverständlich. «Wir sollten noch viel mehr sein.»
Ein 15-Jähriger nutzt einen freien Tag in der Schule, um Kaffee an die Wartenden auszuschenken. Ein paar Brocken schnell gelerntes Ukrainisch schenkt er noch dazu. Ein Mann mit grauem Bürstenschnitt, der sonst Arme in Kreuzberg mit Essen versorgt, gibt jetzt Saft, Obst und Kuchen an Ukrainerinnen und deren Kinder aus.
Eine italienische und eine argentinische Studentin verteilen Kinderspielzeug. Sie haben sich in einer Chatgruppe auf dem Nachrichtendienst Telegram gefunden. Allein in Berlin sind in ihr bereits mehr als 20’000 mögliche Helferinnen und Helfer registriert.
Fehler gefunden?Jetzt melden.