Polen empfängt Flüchtlinge aus Ukraine«Vielleicht das grösste soziale Engagement, das wir hier je gesehen haben»
Ganz Polen scheint von einer Welle der Hilfsbereitschaft erfasst zu sein. Was aber mit den Flüchtlingen geschehen soll, weiss niemand so genau.

Przemek steht am dritten Tag des Krieges in der Ukraine am modernen Bahnhof der polnischen Stadt Rzeszow und hält jedem, der die Rolltreppe von den Gleisen heraufkommt, ein breites Lächeln und ein Schild entgegen. Darauf steht auf Polnisch und Ukrainisch, dass es hier Hilfe gibt. Die Stadt liegt 90 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Vorerst aber bleibt der breitschultrige Mann mit seinem Lächeln noch ein bisschen allein.
Ganz Polen scheint von einer Welle der Hilfsbereitschaft erfasst zu sein, «Solidarität mit der Ukraine» ist die Parole der Stunde, kaum eine Kommune, die keine Vorbereitungen trifft. Auch der Migrationsforscher Maciej Duszczyk, der noch am Tag der Invasion in der Gazeta Wyborcza vor einer «humanitären Katastrophe» gewarnt hatte, ist zwei Tage später «ein bisschen optimistisch». «Das ist vielleicht das grösste soziale Engagement, das wir hier je gesehen haben», sagt er am Telefon. «Ich bin kein Fan dieser Regierung, aber den ersten Schritt haben sie gut hinbekommen.»
Zumindest die Infrastruktur steht: es gibt Aufnahmezentren im gesamten Land, Transport, erleichterte Einreisebedingungen. Die Versorgung Verletzter wird vorbereitet. Auch Absprachen mit den grossen Hilfsorganisationen würden getroffen – keine Selbstverständlichkeit, wie Duszczyk betont, denn die meisten NGOs seien regierungskritisch. Schliesslich sei da noch das enorme private Engagement. Ob man nun spontan eine Projektwoche über die Ukraine ansetzt, wie der Lehrer von Duszczyks Sohn, oder belegte Brote verteilt wie Przemek.
Viele Ukrainer wollen zu Verwandten und Freunden
Hinter Przemek stehen weitere Helfer neben einem Berg von Lebensmitteln. «Wir sind eine offene Stadt», sagt er. Die Helfer bieten Unterstützung nicht nur auf Ukrainisch, Russisch und Polnisch, sondern auch auf Englisch an. Man sei vorbereitet, Menschen aufzunehmen, 200 Schlafplätze hat die Stadt kurzfristig schon eingerichtet.
Nach Angaben des Grenzschutzes sind seit Beginn des Ukraine-Kriegs mehr als 377 400 Flüchtlinge aus dem Nachbarland angekommen. Die Regierung stellt sich insgesamt auf eine Million Flüchtlinge ein. Allein am Montag hätten 100 000 Menschen die Grenze überquert, teilten die polnischen Grenzschützer am Dienstag per Twitter mit.
Deshalb sind auch die meisten Betten noch frei, welche die Städte nun eilig bereitstellen, in Turnhallen oder Studentenwohnheimen. Viele, die jetzt über die Grenzen kommen, haben ein konkretes Ziel, wollen zu Verwandten, Freunden. Auch am Bahnhof von Przemyśl ist es an diesem Samstagvormittag eher ruhig. Die Stadt liegt an der Bahnstrecke nach Lwiw in der Ukraine, zwölf Kilometer von der Grenze entfernt. Noch am Mittag wuseln dann mindestens so viele Helfer wie Flüchtlinge durchs Bahnhofsgebäude.
Die meisten Leute, die hier Pappschilder mit Ortsnamen hochhalten, wollen nicht mitgenommen werden – sie bieten eine Mitfahrt an. Ins nahe Rzeszów, mehrere nach Katowice, nach Kraków, Warschau. Jirka ist extra aus Olomouc in Tschechien hergekommen, er hat Platz für eine vierköpfige Familie, Fahrt und Übernachtung. Er habe selbst Kinder, sagt er. Ein ganz kleiner Teil der Ukraine hat ja auch mal zur Tschechoslowakei gehört und noch vorher gehörten sie alle zum Habsburgerreich – das frisch renovierte Bahnhofsgebäude stammt aus dieser Zeit. Ukrainisch spreche er nicht, sagt Jirka. Aber man werde sich schon verstehen. Die tschechische Regierung hat Sonderzüge geschickt, einer ist schon abgefahren.
Am Nachmittag kommt ein Zug aus Kiew, seit dem Morgen war er erwartet worden. In kürzester Zeit ist der Bahnhof überfüllt: Frauen, Kinder, Koffer. Suppe wird ausgegeben, Windeln, Milch, Wasser verteilt. Auch Tickets gibt es kostenfrei.
An der Grenze müssen viele stundenlang in der Kälte ausharren
Das Problem ist im Moment weniger die Ankunft in Polen, es sind vor allem die überfüllten Grenzstationen, das stundenlange Ausharren in der Kälte. Aus Polen wurden Hilfskonvois geschickt, um die Wartenden auf der ukrainischen Seite zu versorgen. Hilfsorganisationen kritisieren, es fehlten elektronische Systeme zur Überprüfung von Pässen.
Im Bahnhof von Przemyśl sind auch Menschen aus der Ukraine angekommen, die aus verschiedenen afrikanischen Ländern stammen. Mit ihren Papieren geht es für sie von hier aus erst einmal nicht weiter. Eine Studentin sagt, sie warte auf den Zug nach Warschau, von dort fliege sie zurück in ihre Heimat Sierra Leone. Andere wirken verloren. Die Hilfsbereitschaft für die Ukrainer ist gross, aber keiner scheint daran gedacht haben, dass in der Ukraine nicht nur ukrainische Staatsbürger wohnen, die nun vor dem Krieg fliehen. Ein Mann aus einem staatlichen Hilfsteam, das hier Fragen zu Pässen und anderem wichtigen Papierkram beantwortet, erklärt, dass für alle der gleiche Fluchtgrund gelte. Alle Grenzen seien offen, Covid-Einreiseformulare oder Visa werden nicht verlangt. «Wir helfen jedem», beteuert er.

Die Stiftung Ocalenie («Rettung»), die sich auch für die Flüchtlinge an der weissrussischen Grenze einsetzt, ist da nicht so sicher. Auf ihrer Facebookseite loben die Helfer die rasche und umfangreiche Hilfe der rechtsnationalen PiS-Regierung für die Menschen aus der Ukraine. Zugleich verdeutliche das, dass für die Regierung und die Grenzschützer eben nicht alle Menschen gleich seien. «Wir möchten in einem Land leben, in dem Flüchtlinge nicht nach Hautfarbe, Glaube oder Ethnie unterschieden werden», schreiben sie.
Die Euphorie verfliegt
Auch Anna Dąbrowska sieht bereits Risse in der Euphorie der Hilfsbereitschaft der ersten Tage. Dąbrowska arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Homo Faber in der ostpolnischen Grossstadt Lublin. Die Stadt betont nicht nur ihre multikulturelle Vergangenheit, die durch die Nationalsozialisten zerstört wurde. Lublin ist heute wieder eine internationale Stadt – nicht zuletzt mit einer grossen ukrainischen Community, die hier jährlich ein eigenes Kulturfestival veranstaltet. Doch Dąbrowska sieht auch die schwierigen Seiten des Zusammenlebens. «Für viele Leute sind Ukrainer einfach Arbeiter», sagt sie. Doch die Ukrainer, die nun ins Land kommen, können nicht jedes Wochenende nach Hause fahren. «Je länger sie bleiben, desto schwieriger wird es», sagt Dąbrowska.
«Wie lange können sie bei ihren Verwandten in Polen bleiben? Irgendwann wird es zu eng.» Dann würden Wohnungen gebraucht, Arbeit, Plätze in Schulen und Kindergärten. Und trotz aller Ähnlichkeiten auch Sprachkurse. «Diese Regierung hat keinen Plan», sagt Dąbrowska, es gebe keine Migrationspolitik. «Ein grosser Fehler», sagt auch Wissenschaftler Duszczyk. Doch die Regierung habe die Notwendigkeit nicht gesehen, sich darum Sorgen zu machen. Eine grössere Zahl Kriegsflüchtlinge kenne man in Polen bisher nur aus dem Tschetschenien-Krieg, die meisten seien allerdings weitergezogen. Die Zuwanderer aus der Ukraine und Weissrussland hätten sich hingegen nahezu unsichtbar in die Gesellschaft eingefügt. Ab einer gewissen Zahl gehe das nicht mehr. Wie viele Menschen kommen könnten, darauf möchte sich Duszczyk nicht festlegen. Doch die 300'000 Menschen der ersten Tage, das sei erst der Beginn der ersten Welle.
Podium: Der Krieg, der alles verändert. Es diskutieren: Zita Affentranger, Russland-Expertin Tages-Anzeiger. Fabian Molina, SP-Nationalrat. Michail Schischkin, Schriftsteller. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Montag, 7. März im Kaufleuten, Pelikanplatz, Zürich. Türöffnung 19.00 Uhr, Beginn 20.00. Der gesamte Erlös aus dem Ticketverkauf kommt der Nothilfe der UNICEF in der Ukraine zugute.
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