Flüchtlinge aus der UkraineKeller-Sutter will besonderen Schutzstatus aktivieren
Justizministerin Karin Keller-Sutter will im Bundesrat beantragen, mit der EU gleichzuziehen und erstmals einen besonderen Status für Schutzsuchende aus der Ukraine zu aktivieren.
Die Schweiz will mit der EU gleichziehen und den Aufenthalt von Schutzsuchenden aus der Ukraine rasch und unbürokratisch regeln. Sie werde im Bundesrat beantragen, den sogenannten Status S für Schutzbedürftige zu aktivieren, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter am Donnerstag am Rande eines EU-Treffens in Brüssel. Der besondere Status war in der Folge des Jugoslawien-Konflikts in den 90er-Jahren geschaffen worden und bisher nicht zur Anwendung gekommen. Ähnlich wie die EU-Richtlinie über den «massenhaften Zustrom», auf welche die EU-Innenminister sich am Donnerstag geeinigt haben.
Karin Keller-Sutter wies Kritik aus Kreisen der SP und von Flüchtlingsorganisationen zurück, wonach der Schweizer Status S hinter der EU-Richtlinie zurückbleibe. Die Richtlinie erlaubt Ukrainerinnen und Ukrainern, sich innerhalb der EU frei zu bewegen. In der Schweizer Regelung sind Reisen ins EU-Ausland wie etwa für Besuche bei Verwandten hingegen bewilligungspflichtig. Die Behörden könnten Reisebewilligungen systematisch und automatisch bewilligen, betonte Keller-Sutter. Anders als beim Status S sieht die EU-Richtlinie zudem vor, dass Schutzsuchende sofort eine Arbeit aufnehmen können. In der Schweiz ist dies erst nach drei Monaten und auch dann nur unter Auflagen möglich. Die Justizministerin stellte auch hier flexible Lösungen in Aussicht. So könnte der Bundesrat die Frist verkürzen.
Die Hälfte in Polen
Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks haben seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine eine Million Menschen das Land verlassen. Rund die Hälfte wurde vorerst von Polen aufgenommen, während andere in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldau gestrandet sind. Ukrainerinnen und Ukrainer können seit 2017 mit einem biometrischen Pass visumfrei in den Schengen-Raum einreisen und sich dort 90 Tage aufhalten. Die Bedingung des biometrischen Passes haben die Schengen-Staaten seit Kriegsbeginn fallen gelassen. Die EU-Richtlinie und der Schweizer Status S sind nötig, weil derzeit niemand davon ausgeht, dass eine Rückkehr nach Ablauf der 90 Tagen möglich sein wird.
Sollte die Zahl der Schutzsuchenden weiter steigen, könnte die EU auch einen Solidaritätsmechanismus aktivieren, um Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen den Ländern zu verteilen. Bisher sei dies jedoch kein Thema, betonte Karin Keller-Sutter nach bilateralen Kontakten mit Amtskollegen. Die Bundesrätin zeigte sich beeindruckt von der Bereitschaft Polens und anderer osteuropäischer Staaten, die Last vorerst allein zu stemmen. Die Schweiz sei aber bereit, sich zu beteiligen, sollte der Solidaritätsmechanismus aktiviert werden. Bisher seien nur sehr wenige Schutzsuchende aus der Ukraine in die Schweiz gekommen. Die Familien gingen dorthin, wo sie Verwandte hätten und privat unterkommen könnten. Die Diaspora ist mit rund 11’000 Ukrainern relativ klein, wobei es sich bei knapp der Hälfte um Doppelbürger handelt.
Streit um Drittstaatsangehörige
Die EU hat sich am Donnerstag überraschend schnell auf die bisher grösste Hilfsaktion für Schutzsuchende geeinigt. Die Kommission hatte den Vorschlag zur Aktivierung der alten EU-Richtlinie erst am Sonntag präsentiert. Schutzbedürftige bekommen nicht nur für bis zu zwei Jahre Aufenthaltsrecht, sondern können arbeiten, sind krankenversichert und können ihre Kinder in die Schule schicken. In den Reihen der EU-Innenminister gab es kurz vor dem Ziel noch Differenzen über den genauen Fokus der EU-Richtlinie. Osteuropäische Staaten und einige andere Länder drängten darauf, die Sonderregelung auf ukrainische Staatsbürgerinnen und -bürger zu beschränken.
Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss. Die EU-Staaten können den temporären Schutz gemäss EU-Richtlinie allen Ankommenden mit Wohnsitz in der Ukraine gewähren oder alternativ nationales Recht anwenden. Demnach müssten Drittstaatsangehörige ein Asylgesuch stellen und das entsprechende Verfahren durchlaufen. Für die traditionell grosse Zahl an Studierenden aus Ländern wie Indien, Nigeria oder Marokko wollen die EU-Staaten gemeinsam mit den Herkunftsländern Repatriierungsflüge organisieren.
Ungeachtet der Dissonanzen kurz vor dem Ziel sprach EU-Migrationskommissarin Ylva Johansson von einem «historischen Tag». Alle EU-Staaten hätten am Ende dem temporären Schutzmechanismus für ukrainische Kriegsflüchtlinge zustimmen können. Der Bundesrat hat bei seiner Sitzung diesen Freitag die erste Möglichkeit, den Status S zu aktivieren und für die Schweiz nachzuziehen.
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