Ukrainische OffensiveDer Westen verspricht Waffen, liefert aber zu spät – oder gar nicht
Kiews Gegenoffensive hat noch keinen grossen Erfolg. Laut Militärexperten liegt das auch daran, dass Europa und die USA häufig zögern.
Zwei Patriot-Raketenabwehrsysteme, zehn Kettenfahrzeuge Bandvagn und 100 Maschinengewehre von Deutschland, Granatwerfer von der Slowakei, gepanzerte Truppentransportfahrzeuge von Polen: Es ist eine eindrucksvolle Lieferallianz, welche die Ukraine im Abwehrkrieg gegen Russland mit neuen Waffen und Ausrüstung unterstützt. Die Patriot-Abwehrsysteme aus US-Produktion sind für Präsident Wolodimir Selenski besonders zentral im Kampf gegen Dutzende russische Raketen, Marschflugkörper und Drohnen, mit denen Russland die Ukraine jeden Tag angreift. «Jede bedeutende Kräftigung unserer Luftverteidigung bedeutet Tausende geretteter Leben», sagt Selenski.
Deutlich bescheidener sieht es freilich bei notwendigen Lieferungen für die je nach Frontabschnitt nur langsam vorankommende oder feststeckende ukrainische Sommeroffensive aus. Zwar ist die Ukraine im Süden seit Beginn des Vorstosses an mehreren Stellen um bis zu rund 18 Kilometer vorgerückt, was das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) für «taktisch bedeutsam» hält. Grosse Durchbrüche oder Erfolge aber blieben bisher aus – was nach Einschätzung führender Experten vor allem auch daran liegt, dass westliche Waffen viel zu spät oder gar nicht geliefert wurden.
Jack Watling vom englischen Militärforschungsinstitut Rusi kritisiert, die Notwendigkeit für eine ukrainische Offensive habe schon im April 2022 festgestanden; von Juli 2022 an sei klar geworden, welche Waffen und Ausrüstung die westlichen Alliierten liefern müssten. Doch erst im Januar 2023 seien entsprechende Entscheidungen getroffen worden. Und die effektive Lieferung der entsprechenden Waffen sei dann erst weitere Monate später erfolgt. Mit verheerenden Folgen.
Laut Watling, der regelmässig in den Frontgebieten der Ukraine forscht, waren Russlands Truppen Anfang 2023 überaus verletzlich – zu dem Zeitpunkt, den der ukrainische Oberkommandeur Waleri Saluschni ursprünglich als Beginn der Offensive geplant hatte. Erst von März 2023 an hätten Russlands Truppen und Ingenieure «formidable Verteidigungen im Süden» aufgebaut: Gräben, Minenfelder und andere Befestigungen, die der Ukraine jetzt so zu schaffen machen. «Die ukrainische Offensive mag noch Erfolg haben, aber ihr Preis ist wegen der westlichen Lethargie stark gestiegen», so Watling vergangene Woche.
Pentagon-Experten stellen in geheimen Studien fest, dass die Ukraine weder genug Ausrüstung noch Soldaten habe.
Zwar sah etwa US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die Chancen für eine ukrainische Offensive offiziell sehr positiv. Tatsächlich aber stellten Pentagon-Experten im Februar 2023 in geheimen Studien fest, dass die Ukraine weder genug Ausrüstung noch Soldaten habe, um russisch besetztes Territorium im grossen Massstab zu befreien.
Dass sich daran nichts grundsätzlich änderte, darauf lässt auch ein Auftritt des eng mit Amerikanern und Ukrainern zusammenarbeitenden Chefs der britischen Streitkräfte, Admiral Tony Radakin, schliessen. Am 4. Juli gab Radakin im Verteidigungsausschuss des britischen Parlaments zu, die Ukraine werde in ihrer Offensive gegen «sehr effektive Verteidigungslinien» der Russen etwa durch «Mangel an Luftdeckung» gehindert. Dabei spielte er vor allem auf das Fehlen von modernen Jagdflugzeugen wie dem F-16 an. «Die Ukrainer haben nicht all die Ausrüstung bekommen, die sie gewollt haben, und wir sehen, welche Folgen das hat. Was die Ukraine braucht, ist zusätzliche Ausrüstung», so der britische Streitkräftechef.
Der Ukraine fehlt es laut ihrem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates neben Kampfflugzeugen auch an Minenräumern, an weitreichenden Marschflugkörpern, an Drohnen und vor allem auch an Munition. Russland habe im ersten modernen Drohnenkrieg «eine 5:1 numerische Überlegenheit», so Sicherheitsratssekretär Olexi Danilow. Deutschland etwa hat der Ukraine 88 Vector-Aufklärungsdrohnen zur Verfügung gestellt; der Rüstungskonzern Rheinmetall will der Ukraine nun auch Luna-Aufklärungsdrohnen liefern. Allerdings verliert die Ukraine einem Rusi-Report vom 19. Mai zufolge jeden Monat rund 10'000 Drohnen.
Ebenso drängend ist der fortdauernde Mangel der Ukrainer an Artilleriemunition bei Projektilen von 122, 152 und 155 Millimetern Durchmesser. Die Ukraine verbraucht Danilow zufolge jeden Monat mindestens 90'000 Granaten allein vom 155-Millimeter-Typ, der Hauptlieferant USA stelle aber monatlich nur 24'000 Stück her, so Danilow. Indes haben Länder wie Bulgarien die Ukraine bereits mit 155-Millimeter-Granaten beliefert, bezahlt von den USA. Der «Financial Times» zufolge soll Washington auch mit Südkorea entsprechende Verträge unterschrieben haben und mit Japan verhandeln.
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