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Natalie Amiri im Interview
«Der Ton auf Teherans Strassen hat sich enorm verändert»

«Die iranische Diaspora ist entsetzt über das Doppelspiel des Westens»: Iran-Kennerin Natalie Amiri.
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Frau Amiri, viele Iranerinnen und Iraner im Ausland bangen und hoffen immer noch, der Aufstand möge zum Sturz der Mullahs führen. Wie schlafen Sie nachts?

Ich frage mich vor allem, wie all die Iranerinnen und Iraner nachts schlafen, die um ihre ermordeten Angehörigen trauern oder die ein Auge verloren haben durch eine Schrotkugel, weil Regime-Schergen mit Absicht auf sie geschossen haben. Wie schlafen die Iranerinnen und Iraner, die zuhauf in den Gefängnissen sitzen oder die ihr Leben auf der Strasse riskiert haben und jetzt den Kuschelkurs des Westens mit den Mullahs mitansehen müssen?

Der EU-Chefunterhändler ist für Atomgespräche mit Teheran nach Katar gereist. Auch der französische Präsident Macron telefonierte mit den iranischen Machthabern. Die USA haben 2,7 Milliarden Dollar an eingefrorenen iranischen Geldern freigegeben. Was sind die Gründe für diesen Kuschelkurs des Westens?

Im Grund geht es darum, das Atomabkommen zwischen Washington und Teheran wieder unter Dach und Fach zu bringen. Im Moment finden dafür Gespräche für eine Übergangslösung statt. Und wenn es sein muss, sieht man dafür über die Verbrechen der Mullahs hinweg: Alle sechs Stunden richtet die Islamische Republik einen Menschen hin. Die westlichen Staaten verurteilen die Menschenrechtsverletzungen jedes Mal mit grossen Worten, auch immer «aufs Schärfste», halten in Reden die Menschenrechte hoch. Doch auf Iraner wirkt das inzwischen wie reine Floskeln ohne politische Konsequenzen. Denn über allem steht das Atomprogramm.

Warum ist ein Atomdeal so wichtig für den Westen?

Der Iran ist zu einer nuklearen Bedrohung geworden. Offenbar soll das Land mittlerweile in der Lage sein, Uran auf bis zu 80 Prozent anzureichern, wie die Internationale Atomenergiebehörde letzten Februar vermeldete. Nur noch die Atomsprengköpfe sollen fehlen. Israel würde allerdings einen atomar bewaffneten Iran nicht akzeptieren und Angriffe auf die iranischen Nuklearanlagen verüben, wenn es zu weiteren Fortschritten kommt. Um einen solchen Flächenbrand zu verhindern, macht sich der Westen erpressbar und lässt sich auf Deals mit der Islamischen Republik ein.

Mit welchen Folgen?

Solange die USA und Europa gegenüber den Mullahs ihre Appeasement-Politik weiterführen, wähnen sich die iranischen Machthaber in Sicherheit. Das Nachsehen haben die Menschen im Iran, weil sich das Regime alles erlauben kann, denn es sitzt am längeren Hebel.

«Weder die Russen noch die Chinesen haben Interesse an einem atomar bewaffneten Iran.»

Welche Rolle spielt der Ukraine-Krieg? Kann es sein, dass der Westen die Mullahs umschmeichelt, damit sie aufhören, Russland mit Drohnen zu beliefern?

Moskau und Teheran unterhalten intensive Bündnisse, die der Westen nicht gross beeinflussen kann. Ich denke daher nicht, dass der Westen den Iran davon abbringen könnte, die Russen mit Drohnen einzudecken. Übergeordnet geht es dem Iran darum, zusammen mit China und Russland den Aufstieg einer neuen antiwestlichen Weltordnung zu fördern und die Vereinigten Staaten von dieser neuen regionalen Ordnung auszuschliessen.

Wenn der Atomdeal zwischen Teheran und Washington zustande kommt, wäre das nicht ein Affront seitens des Iran gegenüber Russland?

Die Islamische Republik befindet sich sowohl innenpolitisch als auch wirtschaftlich in einer Sackgasse. Sie muss ihre Existenz sichern, schauen, dass sie überlebt, und führt deshalb Gespräche in alle Richtungen. Es geht ihr momentan nicht so sehr um Freund oder Feind, sondern darum, wer ihr vor dem Ertrinken hilft. Auch mit Saudiarabien – eigentlich ein Verbündeter der USA – hat der Iran nach vielen Jahren Eiszeit wieder neue Beziehungen aufgenommen. Ich denke nicht, dass die Russen wegen des Atomdeals den Iran fallen lassen, da sind die Interessen und gegenseitigen Vorteile zu gross.

Ist das Atomprogramm nicht einfach eine Ausrede, um Angst zu schüren? Der Iran könnte die Atombombe doch von seinen Verbündeten Russland oder China beziehen.

Russland und China sind Verbündete, aber keine Freunde des Iran. Das heisst: Sie vertrauen der Islamischen Republik nicht blind, und in Bezug auf die atomare Aufrüstung ist jeder auf sich allein gestellt. Weder die Russen noch die Chinesen haben Interesse an einem atomar bewaffneten Iran.

Wäre der neue Atomdeal, wenn er zustande kommt, vergleichbar mit jenem von 2015?

Im Moment wissen wir nicht, wie die Bestimmungen genau aussehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es einen Deal gibt, der es dem Westen ermöglicht, eine gewisse Kontrolle – etwa mit Überwachungskameras – über die iranischen Nuklearanlagen zu haben. Im Gegenzug sollen die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran gelockert werden. Allerdings würde der amerikanische Kongress einen solchen Deal kaum absegnen.

Warum werden diese Verhandlungen derart geheim gehalten?

Nur schon die Tatsache, dass es Gespräche über einen neuen Atomdeal gibt, versucht man unter dem Deckel zu halten. Freundlich ausgedrückt, würde ich sagen, ist es eine diplomatische Herausforderung, Verhandlungen mit einem Regime zu rechtfertigen, das laufend seine eigenen Bürgerinnen und Bürger foltert und hinrichtet.

«Ich halte die Menschen im Iran für sehr viel kompromissbereiter und politisch erwachsener als die Opposition im Ausland.»

Deshalb fordert die iranische Diaspora seit Monaten eine Wende in der westlichen Iran-Politik.

Die Diaspora ist entsetzt über das Doppelspiel des Westens. Und zum ersten Mal nach 44 Jahren rebelliert sie lautstark und wehrt sich gegen die westliche Iran-Politik, legt den Finger auf die Wunde und lässt nicht ab. Kürzlich lud ein belgischer Staatssekretär den Teheraner Bürgermeister nach Brüssel ein, was derart grossen Protest auslöste, dass er von seinem Amt zurücktreten musste. Auch der belgische Premierminister musste sich öffentlich erklären. Dieser Zwischenfall spitzt sich in Belgien gerade zu einer Regierungskrise zu.

Früher wurden solche Dinge unter den Teppich gekehrt.

Heute geht das nicht mehr. Wenn iranische Staatsleute in die europäischen Städte kommen, wird das registriert, und es gibt einen riesigen Aufschrei. Diese enormen Veränderungen haben nicht die westlichen Politikerinnen und Politiker angestossen, sondern die iranische Diaspora, die schreit auf.

Kann sich aus der Diaspora eine politische Alternative herausbilden, die zum Beispiel dereinst eine demokratische Transition im Iran führt?

Das momentan grösste Problem für die Protestbewegung ist, dass sich im Iran keine Opposition bilden kann, sie würde sofort eliminiert werden. Die verschiedenen Oppositionsgruppen im Exil sind heillos zerstritten – ein Faktor, der den Mullahs in die Hände spielt, und zwar seit 44 Jahren. Sie sind nicht geeint, vertrauen einander nicht, kriegen sich in die Haare und sind unfähig zu Kompromissen.

Ganz anders als die Zivilbevölkerung im Iran.

Ich halte die Menschen im Iran für sehr viel emanzipierter, kompromissbereiter und politisch erwachsener als die Opposition im Ausland. Das haben sie in den letzten neun Monaten bewiesen: Von Kurdistan bis Tabriz und von Mashhad bis nach Bandar Abbas zeigten sich die Menschen geeint, alle Ethnien und religiösen Minderheiten teilen das gleiche Ziel: das Ende der Diktatur. Das ist das Besondere an diesem revolutionären Prozess.

Poteste am 4. Juni 2023 vor der Staatsbibliothek von Victoria in Melbourne. 

Sie sagen, die alte Opposition im Ausland spielt den Mullahs in die Hände. Sie meinen damit den Sohn des Schahs, Reza Pahlavi?

Anfang des Jahres formierte sich eine Allianz rund um Reza Pahlavi, doch diese Gruppe ist mittlerweile komplett zerstritten und zersplittert. Also eigentlich gibt es diese Allianz nicht mehr, sie besteht nur noch aus Pahlavi selbst, die anderen haben Einzel- oder Zweierkonstellationen gebildet. Das ändert sich allerdings auch von Tag zu Tag. Kürzlich kam die Meldung, dass sich auch teilweise die kurdische Opposition überworfen hat, angeblich weil Abdullah Mohtadi, Generalsekretär der iranisch-kurdischen Komalah-Partei zu nah an Pahlavi rückte.

Was ist Ihre Haltung gegenüber Reza Pahlavi?

Pahlavi ist für viele Iranerinnen und Iraner eine Reizfigur, für andere ist er ein Star, je nachdem, mit wem man spricht. Viele haben aufgehört, ihn überhaupt zu thematisieren, weil sie sich überhaupt nicht mehr mit dieser zerstrittenen iranischen Opposition befassen mögen. Für viele lässt Pahlavi eine klare und öffentliche Distanzierung von seinem Vater missen, der das Land vor den Mullahs in einer Diktatur regierte und weswegen ihn die Menschen 1979 vom Thron stürzten. Im Vergleich zu heute, sagen viele rückblickend, war es jedoch unter dem Schah um einiges besser als heute. Vor allem für Frauen.

Im Internet zirkulieren Videos von jungen Frauen in Einkaufszentren – ohne Kopftuch. Glauben Sie, die iranische Gesellschaft wandelt sich, ohne dass es die Regierung tut? Eine Art Demokratisierung von unten, mitten in einer Diktatur?

Ich glaube, dass inzwischen der Mut grösser ist als die Angst. Nach 44 Jahren werden die Frauen nur stärker, je mehr Druck sie aushalten müssen. Mittlerweile trägt ein Drittel der Frauen in Teheran kein Kopftuch mehr, und die Mullahs befürchten, dass nun auch die Röcke immer kürzer werden, weil viele von ihnen gar keinen Mantel mehr anziehen. Natürlich sind das auch Szenen, die gern extra für Instagram entstehen und gepostet werden, aber es ist schon so: Die ganze Gesellschaft entwickelt sich diametral in eine andere Richtung als das Regime.

Das heisst?

Bis auf die israelische Gesellschaft gibt es in der ganzen Region keine Gesellschaft, die so säkular eingestellt ist. Von 75’000 Moscheen im Iran sind 50’000 inaktiv, und diese Meldung stammt von einer staatlichen iranischen Nachrichtenagentur. Ich habe kein anderes muslimisches Land erlebt, in dem hinter verschlossenen Türen so viel Alkohol getrunken wird wie im Iran.

«Die jungen Menschen im Iran können mit der Ideologie der Mullahs nichts anfangen.»

Diese neue Generation Z glaubt nicht an die Reformierbarkeit des Regimes?

Genau. Zudem wirft die Generation Z den älteren Generationen vor, das System viel zu lange ertragen zu haben. Die jungen Menschen im Iran können mit der Ideologie der Mullahs nichts anfangen. Ihr ziviler Ungehorsam hat Züge angenommen, die mich manchmal schaudern lassen, weil ich denke, sie werden sofort verhaftet. Aber sie sind so viele: 50 Millionen sind unter 30 Jahre alt. Der Ton auf Teherans Strassen hat sich enorm verändert. Auch wenn das Regime sie verhaften wollte und es auch immer wieder tut, kommt es zahlenmässig nicht nach.

Diese Generation Z, ist sie die Hoffnung des Iran?

Ja, ich glaube an die Kraft der Iranerinnen und an die Bevölkerung, an den Mut der Frauen, die sich tagtäglich dafür einsetzen, dass sich die Dinge verändern. Man kann sich in Europa nicht so gut vorstellen, was es bedeutet, sich im Iran ohne Kopftuch auf die Strasse zu begeben, mit dem Risiko, verhaftet zu werden oder seinen Universitätszugang zu verlieren oder noch viel Schlimmeres. Auch wenn die Umstände frustrierend sind, bin ich überzeugt, dass dieser Mut eines Tages zum Ziel führen muss.

Das Mullah-Regime setzt auf Repression. Wie stabil ist es wirklich?

Die Islamische Republik hat ein dichtes Sicherheitsnetz aufgebaut, sowohl im Inland als auch im Ausland. Innenpolitisch ist es vor allem die Revolutionsgarde mit ihren Basij-Milizen, die die Stabilität des Regimes sichert. Der iranische Repressionsapparat ist sehr kostspielig. Die kürzlich erfolgte Freigabe von gesperrten Milliardensummen durch die USA stärkt natürlich das Regime und seinen Sicherheitsapparat. Diese Gelder können nun in die Unterdrückung der Bevölkerung gesteckt werden. Sehr viel Geld des Staatshaushalts geht an die Basij-Milizen. Und dient zur regionalen Terrorfinanzierung. Besonders die Hizbollah und der Islamische Jihad profitieren von Zahlungen aus dem Iran.

Und worin besteht das aussenpolitische Sicherheitsnetz des Iran?

Der Iran hat in den letzten Jahren im Nahen Osten eine schiitische Verteidigungsachse aufgebaut und laufend gefestigt. Diese führt vom Iran quer durch den Irak über Syrien bis in den Libanon zur Hizbollah. Der Iran unterstützt aber auch palästinensische Terrororganisationen im Gazastreifen. Kaum hatte das US-Finanzministerium iranische Gelder freigegeben, reisten Vertreter der Hamas und des Islamischen Jihad nach Teheran. Das kann Zufall sein – ist aber der iranischen Bevölkerung sofort aufgefallen, auch dieser kann das Regime nichts mehr vorspielen. Das Regime braucht diese Terrorgruppen, sie gehören zur schiitischen Verteidigungsachse.

Viele Iranerinnen und Iraner im Ausland, die sich in den letzten Monaten klar gegen das Regime gestellt haben, können nicht mehr in ihre Heimat reisen, solange die Mullahs an der Macht sind. Sie selbst gehören auch zu dieser Gruppe. Wie gehen Sie damit um?

Mein Vater ist Iraner, meine Mutter ist Deutsche. Man könnte mich in der Mitte durchschneiden und dann vielleicht sehen: Mein Kopf ist sehr deutsch, mein Herz sehr persisch. Ich wünsche mir, dass mein Herz eines Tages wieder Energie ziehen kann aus seiner angestammten Quelle.