Sehr tiefe ArbeitslosenzahlenDer Schweizer Arbeitsmarkt macht mit jeder Krise eine bessere Figur
Die Arbeitslosigkeit ist so tief wie seit 2001 nicht mehr. Mit jedem Schock von aussen scheint die Wirtschaft mehr Personen im System behalten zu können als zuvor.
In der Schweizer Volkswirtschaft haben sich zwei eng verknüpfte Entwicklungen gerade auf selten gesehene Weise zugespitzt: So hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am Montag für das vergangene Jahr eine Arbeitslosigkeit von 2,2 Prozent gemeldet. So tief war der Wert seit 2001 nicht mehr gewesen.
Dem entgegenlaufend war der Fachkräftemangel im Land noch selten so hoch wie zurzeit: Ein Drittel der Unternehmen, die das Bundesamt für Statistik befragt hat, gibt an, Schwierigkeiten beim Rekrutieren von Personen mit höherer Berufsausbildung zu haben. Selbst Ungelernte, die nur die obligatorische Schule abgeschlossen haben, sind so schwierig zu finden wie noch nie seit 2006. Weiter führt die entsprechende Umfrage nicht zurück.
Lage dürfte sich entspannen
Bei beiden Entwicklungen dürfte die Spitze mittlerweile überschritten sein: Das Seco rechnet für das angebrochene Jahr mit einer leichten Entspannung der Lage. Die Gründe dafür sind einerseits der Fachkräftemangel selbst, der die Wirtschaft bremst, andererseits die sich abkühlende globale Konjunktur.
Im Durchschnitt soll die Arbeitslosigkeit 2023 auf 2,3 Prozent steigen, so die Prognose. Je mehr Personen auf Stellensuche sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass für Firmen auf Personalsuche die Richtigen dabei sind.
Dass sich die beschriebenen Höhe- beziehungsweise Tiefpunkte gerade jetzt ereignen, hat einerseits mit der internationalen Gemengelage zu tun: Die wirtschaftliche Öffnung nach der Pandemie führt bis heute zu einer Überhitzung, in der die Nachfrage das Angebot übersteigt. Während der Pandemie wurden zudem im In- und Ausland viele Personen frühpensioniert, was das Arbeitskräftereservoir schmälert; die generelle demografische Entwicklung steuert das ihrige bei.
Andererseits ist die aktuelle Lage in der Schweiz die Konsequenz eines langjährigen Trends. Wie Boris Zürcher, Leiter der Seco-Direktion für Arbeit, an einer Medienkonferenz ausführte, ist der Schweizer Arbeitsmarkt seit der Jahrtausendwende generell deutlich widerstandsfähiger gegen Krisen geworden.
So haben nicht nur die Ausschläge der Arbeitslosenquote nach oben in Krisen seither abgenommen: Nach dem Platzen der Dotcom-Blase lag sie 2004 im Höhepunkt bei 3,9 Prozent, 2020 lag sie übers ganze Jahr bei 3,2 Prozent.
Dies bestätigt die Entwicklung, die sich bereits während der Finanz- und Wirtschaftskrise (ab 2008) und während des ersten und des zweiten Frankenschocks (ab 2011 respektive 2015) gezeigt hatte. Auch absorbierte die Wirtschaft den jüngsten Schock deutlich schneller, konnte die Personen aus der Arbeitslosigkeit also wieder aufnehmen.
Ökonom Zürcher sieht dabei zwei hauptverantwortliche Gründe für den Erfolg des Schweizer Arbeitsmarkts. «Erstens hat die Stärkung des dienstleistungsorientierten tertiären Wirtschaftssektors zu einer höheren Arbeitsplatzsicherheit geführt», sagte er. Das ist eine persönliche Einschätzung Zürchers; wissenschaftliche Untersuchungen gebe es keine dazu.
Der Mechanismus dabei ist, dass Branchen im sekundären Sektor wie zum Beispiel die Maschinenindustrie stärker konjunkturabhängig sind und bei Schocks eher Personen entlassen müssen. In frischer Erinnerung ist die Krise nach der Aufgabe der Euro-Franken-Untergrenze im Januar 2015.
Selbst in der aktuellen Situation, in der fast überall Arbeitskräfte gesucht werden, ist die Metallindustrie die grosse Ausnahme: Einige ihrer Angestellten profitieren gegenwärtig von Kurzarbeitsentschädigung, während diese in der gesamten restlichen Wirtschaft kaum mehr eine Rolle spielt.
«Dienstleistungen dagegen sind zu einem wesentlichen Teil staatsnah», sagte Zürcher und nannte zum Beispiel das Gesundheits- oder das Bildungswesen, wo die Konjunktur fast keine Rolle spielt und kaum je im grösseren Stil Angestellte entlassen werden.
Weiter fielen Gastronomie und Tourismus, aber auch Beratungs- und Finanzdienstleistungen in diesen krisenresistenteren Sektor. (Anmerkung: In einer ersten Version des Artikels wurde hier auch die Pharma als Beispiel genannt. Es handelte sich dabei jedoch um ein Missverständnis an der Medienkonferenz; die Pharma zählt zum sekundären Sektor.)
Personenfreizügigkeit als Stabilisator
Einen mindestens so grossen Anteil an der Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarkts dürfte jedoch auch die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union seit 2002 haben. In Krisenzeiten sank die Nettozuwanderung in die Schweiz in den vergangenen Jahren jeweils deutlich, was die Chancen frisch entlassener Personen auf eine neue Stelle erhöhte.
In Boomjahren dagegen wuchs die Schweizer Bevölkerung – aber nicht das Pro-Kopf-Einkommen – wie in kaum einer anderen Volkswirtschaft der westlichen Welt. Die Diskussion darüber wird im Wahljahr 2023 nicht zu überhören sein.
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