Politische Rechte für BehinderteDer Schweiz droht eine Rüge der UNO
Als einziger Kanton erlaubt Genf auch Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung abzustimmen und zu wählen. Nun wollen Politiker in anderen Kantonen nachziehen.
«Historisch», eine «Abstimmung mit Signalwirkung», «Genf geht voran» – das war der Tenor in der Berichterstattung über die Abstimmung in Genf. Mit einem Ja-Stimmenanteil von 75 Prozent hat das Genfer Stimmvolk Ende November allen Menschen mit Behinderung das Stimm- und Wahlrecht erteilt. Damit ist Genf die Ausnahme. In allen anderen Kantonen und auf Bundesebene können Personen, die dauernd urteilsunfähig sind und deswegen unter umfassender Beistandschaft stehen, weder abstimmen noch wählen. Das widerspricht der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Diese verlangt politische Rechte für alle Personen, unabhängig von der Art ihrer Behinderung.
Ausserhalb von Genf gab es aber in der Politik bislang kaum ernsthafte Versuche, die Forderung der UNO-Konvention umzusetzen. Ein Grund dafür sei, dass es Behindertenanliegen generell schwer hätten, sagt Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. «Es braucht jemanden, der sich das Anliegen zu eigen macht und sich dafür engagiert.» In Genf sei dies der Fall gewesen, andernorts fehlten solche Personen bislang.
Koordiniertes Vorgehen
Wie wichtig dieses persönliche Engagement ist, zeigt das Beispiel Wallis. Da hat das Kantonsparlament nur wenige Tage vor der Abstimmung in Genf einen Vorstoss hochkant abgelehnt, der die Regierung verpflichtet hätte, das Gesetz zu ändern und auch Personen unter umfassender Beistandschaft die politischen Rechte zu erteilen. Die beiden Initianten des Walliser Vorstosses waren an der Diskussion im Rat nicht einmal beteiligt.
Das gute Resultat der Abstimmung in Genf scheint nun aber Bewegung in die Frage des Stimmrechts für Menschen mit Behinderung zu bringen. Dem Vernehmen nach planen Politikerinnen und Politiker entsprechende Vorstösse im Bundesparlament und in den Kantonen. Jetzt gehe es darum, das Vorgehen zu planen und zu koordinieren, damit es erfolgreich sei, sagt Caroline Hess-Klein.
Die Idee ist, das Anliegen vorab in jenen Kantonen voranzutreiben, wo die Chancen dafür am grössten sind. Infrage kämen etwa die Waadt oder Basel-Stadt, sagt Markus Schefer. Der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel ist als Mitglied des UNO-Ausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen selber in der Frage engagiert.
Schefer weist darauf hin, dass in einigen Kantonen und auf Bundesebene eine Verfassungsänderung nötig ist, um das Stimm- und Wahlrecht auch Bürgerinnen und Bürgern mit schwerer Behinderung zu gewähren. Da gelte es, auch das Volk zu überzeugen, dass das Anliegen berechtigt sei. Das sei eine zusätzliche Hürde, zumal die Argumente der Gegner durchaus auf Anklang stiessen. Hier die häufigsten Argumente und die Antworten darauf.
Nicht fähig zur Meinungsbildung
Die Gegner des Stimm- und Wahlrechts sagen, dass Personen mit einer umfassenden Beistandschaft nicht urteilsfähig und somit auch nicht in der Lage seien, sich in politischen Angelegenheiten eine Meinung zu bilden. Es sei deshalb richtig, wenn sie nicht stimmen und wählen dürften.
Dem halten die Befürworter entgegen, dass auch urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger mit den Abstimmungsvorlagen überfordert sein können, und trotzdem stimmen dürfen. Zudem seien auch Menschen mit schwerer Behinderung oftmals in der Lage, ihre politischen Rechte auszuüben, sagt Experte Markus Schefer. «Dass Einzelne dies nicht können oder nicht wollen, darf nicht Anlass sein, ihnen dieses elementare Recht generell zu entziehen.»
Gefahr des Missbrauchs
Wenn urteilsunfähige Personen abstimmen dürften, dann bestehe die Gefahr des Missbrauchs, sagen die Gegnerinnen. Sei es, dass die urteilsunfähige Person durch Angehörige beeinflusst würde oder dass die Angehörigen gleich selbst an deren Stelle das Stimmrecht ausübten.
«Die Gefahr der Beeinflussung gibt es auch anderswo, etwa in Altersheimen», entgegnet Befürworter Schefer. Er räumt aber ein, dass es entsprechende Vorkehrungen brauche, um dem Risiko des Missbrauchs entgegenzuwirken. Man könnte zum Beispiel Hilfspersonen bestimmen, die den Stimmberechtigten das Vorgehen erklärten und sie bei der Ausübung ihrer Rechte unterstützten. Zudem müssten die Abstimmungsvorlagen in leichter Sprache herausgegeben werden. Da könnte, so Schefer, der Bund eine Methodik entwickeln, damit das nicht jeder Kanton für sich machen müsse.
Nur wenige betroffen
Ein anderes häufiges Argument der Gegner ist, dass nur wenige vom Entzug des Stimm- und Wahlrechts betroffen seien, da die umfassende Beistandschaft nur als letztes Mittel angewandt werde und die Tendenz rückläufig sei.
Die Befürworter verweisen auf die Statistik. Demnach stehen über 14’000 Personen unter umfassender Beistandschaft. «Das entspricht einer mittelgrossen Schweizer Gemeinde und ist ein nicht vernachlässigbarer Teil der Bevölkerung», sagt Markus Schefer. Auch Andreas Rieder vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung lässt das Argument der geringen Zahl Betroffener nicht gelten. Selbst wenn nur wenige vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen seien, sei dies keine Rechtfertigung, es dabei zu belassen.
Für die Befürworter steht denn auch fest, dass die UNO die Schweiz wegen ihrer Praxis rügen wird. Das habe sie auch bei allen anderen Staaten getan, die es mit dem Stimm- und Wahlrecht gleich handhabten, sagt UNO-Ausschussmitglied Schefer.
Ursprünglich sei geplant gewesen, dass die UNO sich 2020 zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Schweiz äussere. Die Corona-Pandemie habe zu einer Verzögerung geführt. Es sei gut möglich, dass es selbst dieses Jahr noch nicht dazu komme, erklärt Schefer. Liegt die UNO-Rüge aber einmal vor, dürfte das die Diskussion über die politischen Rechte für Menschen mit intellektueller und psychischer Behinderung zusätzlich befeuern und dem Anliegen den nötigen Schub verleihen.
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