Psychologe über Corona-MassnahmenKomplizierte Regeln, ständige Änderungen – wie schafft man das?
Der Psychologe Stephan Grünewald warnt davor, den Faktor Mensch bei der Pandemiebewältigung zu vergessen. Und gibt Tipps, wie man die schwierige Lage meistern kann.
Wann wird gelockert? Wie wird gelockert? Wird überhaupt gelockert? Diese Fragen beschäftigen, vor allem an einem Tag, an dem der Bundesrat wieder einmal über genau dies informiert. Doch lohnt es sich für uns überhaupt, sich solchen Unwägbarkeiten auszusetzen? Nachfrage bei zwei Fachmännern.
Was macht uns Mut?
Stephan Grünewald ist Psychologe. Er sagt: «Der Mut fällt nicht vom Himmel, der braucht eine Perspektive.» Grünewald findet, dass man lieber über das «Wie?» statt über das «Wann?» sprechen solle. Fragen wie: Wann öffnen wir? Wann werden wir geimpft?, führten oft zu einer Abwartehaltung und lösten Enttäuschungen aus. «Ich habe gerade die Sorge, dass ein Teil der Bevölkerung in eine Lethargie verfällt und einfach hofft, dass durch die Lockdowns die Zahlen runtergehen.»
Das «Wie?» sei wichtiger, es zeige Massnahmen auf, wie man aus diesem lethargischen Zustand rauskomme, wie man mit dem Virus lebe, ohne dass man wieder in neue Shutdowns falle. «Wir brauchen eine Strategie aus diesem Zustand hinaus», sagt er.
Grünewald bekommt Unterstützung von Thomas Steffen, Kantonsarzt Basel-Stadt. Der sagt dieser Zeitung: «Würden die Lockerungsschritte an epidemiologische Kennzahlen gebunden, würde sich die Bevölkerung völlig darin verlieren.» Der Arzt bekommt Mails von Menschen, die diese Daten ständig beobachten und davon völlig aufgerieben werden. «Sie sind in den Schwankungen gefangen, zwischen Hoffnung und Angst.»
Wie geht es uns?
Kantonsarzt Steffen sieht viele Menschen am Limit, sie reagieren dabei auf zwei Arten: «Entweder sie leben in ständiger Angst und Sorge, oder sie beginnen zu verdrängen.»
Grünewald hat in seinem Kölner Rheingold-Institut anhand von Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Bevölkerung während der zweiten Welle genauer erforscht. Ihm fiel auf, dass es grob gesagt drei Gruppen von Menschen gebe. Zwei davon seien zermürbt, der Psychologe spricht von einer Corona-Korrosion. «Die Leute fühlen sich in einer Endlosschleife, das führt zu einem Zersetzungsprozess.» Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Bei der ersten führt diese Zermürbung zu einem Schrei nach noch stärkeren Massnahmen. Bei der anderen Gruppe verfallen die Menschen in eine anarchische Resignation, sie haben das Gefühl, es helfe ja sowieso nichts. «Sie werden anfällig für Verschwörungstheorien», sagt Grünewald.
Die dritte Gruppe wiederum hat sich sehr gut eingerichtet im Lockdown. Ihnen hat sich eine Lebensform eröffnet, die ihnen entgegenkommt. Sie sind von sozialen Pflichten entbunden, das Leben ist entschleunigt, sie müssen keine Partys feiern und keine Leute treffen. «Sie haben sich wunderbar in diesem Biedermeier-Lebenskreis eingerichtet. Für sie könnte der Lockdown ewig weitergehen», sagt Grünewald. «Hier mache ich mir Sorgen, wie man die wieder zurückgewinnt, wenn das Leben wieder anspringt.»
Was läuft falsch?
Der menschliche Faktor werde viel zu wenig beurteilt, findet Grünewald. Wer unter Zermürbung leide, ziehe nicht mehr so mit wie bisher. Zudem macht Grünewald die zunehmende Spaltung der Gesellschaft Sorgen. Er hat beobachtet, wie die Debatten immer mehr ins Extreme abdriften. «Doch die Debatten muss man führen, auch wenn sie Kraft brauchen. Das Gefühl, nicht gesehen oder gehört zu werden, ist ein Nährboden für extreme Meinungen und Theorien.»
Auch Steffen erwartet von der Politik, dass sie die Corona-Müdigkeit bei ihren künftigen Entscheiden berücksichtigt. Verpasst man das, schwant ihm nichts Gutes: «Wenn nun grössere Gruppen diese Massnahmen nicht mehr mittragen, dann wird es schwierig, aus der Pandemie herauszukommen.»
Was hilft? Puzzles!
«Positiv denken ist gut, aber das kann man sich nicht verordnen, man muss sich selbst Erfolgserlebnisse geben», sagt Grünewald. Er denkt dabei nicht an einen Serienmarathon auf Netflix, sondern eher an Dinge, bei denen man eine Selbstwirksamkeit erfährt. Sich etwas gönnen, jemandem etwas Gutes tun oder einfach auch nur ein Puzzle vollenden. Tatsächlich? Ist das so einfach? «Das kann guttun, weil in der Pandemie das gewohnte Bild in 1000 Teile gefallen ist», sagt Grünewald. «Nun kann man wieder ein Bild herstellen, und man hat das beruhigende Gefühl, dass am Ende wieder alles passt. Das hat eine stabilisierende Wirkung.»
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