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Interview mit Psychiater
«Ernsthafte Suizidversuche bei Jugendlichen nehmen zu»

Abgekapselt, allein gelassen und verzweifelt: Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an schweren Depressionen.
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Die Covid-Taskforce spricht von einer deutlichen Zunahme von Depressionen vom ersten zum zweiten Lockdown. Wie sieht das bei Jugendlichen und Kindern aus?

In der ersten Lockdownphase haben wir viele kurzfristige Reaktionen erwartet. Die blieben zwar nicht ganz aus, waren aber nicht so dramatisch. Dann gab es eine Phase, in welcher Kinder und Jugendliche die Corona-Thematik mehr oder weniger ausblenden konnten – ein scheinbar unbelasteter Sommer. Seit Oktober beobachten wir jedoch, dass alle Kliniken für Jugendliche und Kinder voll und zum grossen Teil überbelegt sind. Mit anderen Worten, Kindern und Jugendlichen schlägt die Corona-Pandemie langfristig wohl noch mehr auf die Psyche als den Erwachsenen.

Worauf führen Sie das zurück?

Die unberechenbaren Veränderungen und die damit steigende Verunsicherung hat bei vorbelasteten Kindern und Jugendlichen zu einer drastischen Verschärfung ihrer Symptomatik geführt. Das widerspiegelt sich vor allem im ambulanten Bereich, da sehen wir einen Zuwachs von bis zu 50 Prozent. Auch die wichtigen vorgelagerten Bereiche wie Sorgentelefone oder Beratungsstellen vermelden einen deutlichen Zuwachs.

Wie äussert sich das konkret?

Obwohl wir das noch nicht mit langfristigen Zahlen untermauern können, stellen wir eine beunruhigende Zunahme von ernsthaften Suizidversuchen fest. Es bereitet uns grosse Sorge, dass Jugendliche in die Kliniken eingewiesen werden, die ohne grosse Vorerkrankungen oder Vorzeichen in einen Verzweiflungszustand geraten, der ihnen ausweglos erscheint. Und das ist in allen Landesteilen so.

Welche Krankheitsbilder herrschen in den Kliniken derzeit vor?

Was wir tatsächlich mehr sehen, sind schwergradige Depressionen. Das äussert sich in starken Ess- und Schlafstörungen bis hin zu Kontaktverweigerungen oder Halluzinationen. Die zweite Gruppe von Krankheiten, die derzeit stark zunimmt, betrifft Kinder und Jugendliche, die ohnehin wenig Kontakt zu anderen Menschen pflegen. Das sind die sozial-ängstlichen und sozial-phobischen, die quasi ihres Übungsfeldes beraubt werden. Diese Patienten leben dann noch mehr auf sich zurückgezogen und können ernste psychische Störungen entwickeln bis hin zu einer Paranoia.

Wie verhält es sich mit der anfangs der Pandemie befürchteten Steigerung der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen?

Instabile oder impulsive Personen traten klinisch nicht so sehr in Erscheinung, wie wir das zunächst erwartet hatten. Offenbar haben die Eltern, Schulen und Therapeuten hier vieles geleistet. Zudem gab es kaum Veränderungen bei der Anzahl Jugendlicher, die an Schizophrenie oder schwerem Suchtverhalten erkranken.

Gibt es auch Jugendliche, deren Psyche durch die Shutdowns sogar profitiert hat?

Kinder und Jugendliche, die sich durch den Schulbesuch selbst gestresst fühlen, empfinden den Fernunterricht als entlastend: Das sind jene, welche sehr ängstlich, autistisch oder phobisch veranlagt sind. Ich würde dies aber nicht als Profitieren bezeichnen, sondern als vorübergehende Auszeit. Es gibt nur eine Gruppe, bei der man überhaupt von profitieren sprechen kann.

Welche?

Diejenigen, die bisher einen leichten Drogenkonsum betrieben, in Gruppen und bei Partys immer wieder mal etwas ausprobiert haben. Sie kommen viel weniger in Versuchung.

Wie gross ist die Versuchung für Jugendliche, sich mit Medikamenten oder Drogen zu kurieren?

Wir beobachten derzeit eine zunehmende Anzahl Jugendlicher, die von Amphetaminen oder Kokain auf beruhigendere Rauschmittel wie Cannabis, Alkohol oder eben auch Psychopharmaka umsteigen. Wenn jemand dauernd zu Hause sitzen muss, bringt ein Aufputschmittel starke Unruhe und allenfalls Angst. Da ist etwas Dämpfendes für den Nutzer sozusagen viel angesagter. Sie konsumieren unkontrolliert Benzodiazepine wie Xanax oder Temesta. Diese Medikamente führen aber sehr, sehr schnell in die Abhängigkeit. Diese Entwicklung müssen wir in den kommenden Monaten genau beobachten, denn der Entzug ist aufwendig und schwierig. Wir haben in den letzten Monaten im Klinikalltag vermehrt solche Fälle gesehen. Ein Phänomen, das es vor einem Jahr in der Breite so kaum gab.