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Analyse der US-Politik
Der lange Abschied von der 9/11-Ära

Er will aufräumen mit den politischen Hinterlassenschaften der Post-9/11-Ära: US-Präsident Joe Biden.
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Die aussen- und sicherheitspolitischen Prioritäten von US-Präsident Joe Biden spiegeln sich dieser Tage in der Reiseroute seiner stellvertretenden Aussenministerin Wendy Sherman: Am Montag hat sie in Tianjin ein frostiges Treffen mit ihrem chinesischen Kollegen Xie Feng hinter sich gebracht. An diesem Mittwoch steht Genf auf dem Programm, wo sie den Dialog über strategische Stabilität mit Russland aufnehmen soll. Diesen hatten Biden und Kremlchef Wladimir Putin bei ihrem Gipfeltreffen in der Schweiz vereinbart.

Biden betrachtet Peking zu Recht als strategischen Konkurrenten und will China in allen wichtigen Feldern entgegentreten – bei der Entwicklung neuer Technologien ebenso wie bei der Ausrichtung der Streitkräfte. Bei der Konfrontation mit der zweiten Weltmacht des 21. Jahrhunderts geht es darum, wer von beiden die globale Ordnung prägt. Russland, dessen Status im Wesentlichen durch sein Atomarsenal und sein Militär Bestand hat, wollen Bidens USA dagegen vor allem eindämmen.

Die Wirren des Nahen Ostens und Afghanistans gelten dem Präsidenten da als unnütze Ablenkung, die Fixierung der USA auf die Bedrohung durch den islamistisch motivierten Terrorismus als Relikt einer vergangenen Zeit. Er will aufräumen mit den politischen Hinterlassenschaften der Post-9/11-Ära und dem von George W. Bush ausgerufenen globalen Krieg gegen den Terror.

Der Rückzug der USA aus dem Irak erfolgt vorsichtig, was äusserst ratsam ist. Denn der Irak ist Schauplatz des Ringens mit dem Iran.

Das ist angesichts der Exzesse dieser Politik nur begrüssenswert. Die auf Lügen fussende Invasion im Irak 2003, die Folterbilder von Abu Ghraib und das Gefangenenlager Guantánamo, das Biden schliessen will: Sie haben die Glaubwürdigkeit und den Führungsanspruch Amerikas schwer beschädigt. Donald Trumps erratische Politik machte den Schaden nur noch grösser.

Der bedingungslose Abzug aus Afghanistan erscheint da nur logisch: Von dem Land geht keine akute Bedrohung für die USA mehr aus. Und der al-Qaida wurde vorerst die Fähigkeit genommen, über Afghanistan hinaus zu wirken. Den bitteren Preis freilich zahlen auch diesmal wieder die Bevölkerung, vor allem die Frauen, und die Zivilgesellschaft.

Das Ende des Kampfeinsatzes der US-Truppen im Irak ist der nächste Schritt auf diesem Weg. Aber er fällt schon weitaus vorsichtiger aus – was äusserst ratsam ist. Das liegt weniger an der Sicherheitslage im Irak als an der geopolitischen Konstellation: Bagdad ist Schauplatz des Ringens mit dem Iran.

Die Hardliner in Teheran sehen erstmals seit der Islamischen Revolution 1979 ihr Ziel als erreichbar an, den «Grossen Satan» USA aus der Region zu vertreiben. Die ultrakonservativen Eiferer interpretieren Bidens Rückzug aus Afghanistan leichtfertig als Zeichen der Schwäche. Ihr gefährliches Kalkül ist es, dass sie mit einer dosierten Verschärfung der Angriffe auf die Amerikaner im Irak und in Nordsyrien Washington zermürben und in einen demütigenden Rückzug nötigen können.

Dem nachzugeben, hiesse, die fragile Regionalordnung dem Spiel der Kräfte zu überlassen. Amerikas Verbündete sähen sich alleingelassen. Und in der Folge genötigt, die Dinge noch stärker in die eigene Hand zu nehmen. Wozu das führen kann, ist im Jemen zu besichtigen, wo sich der Iran und Saudiarabien einen Stellvertreterkrieg liefern, der das ganze Land in den Abgrund gestürzt hat – freilich ohne dass es die Welt interessiert.

In vielen Regionen der Welt verfolgen Regierungen aufmerksam, wie verlässlich die USA als Verbündete sind.

Bei einem direkten Konflikt mit dem Iran wäre das zweifellos anders. Dem neuen Präsidenten Ebrahim Raisi ist es durchaus zuzutrauen, dass er den Atomstreit eskalieren lässt. Israel und seine offiziellen wie inoffiziellen Verbündeten unter den arabischen Ölmonarchien am Golf sind nicht bereit, dem tatenlos zuzusehen. Und Biden hat selbst klargestellt, dass er nicht zulassen wird, dass sich die Islamische Republik Atomwaffen verschafft. Deswegen wäre es wichtig und begrüssenswert, wenn endlich eine Rückkehr zum Atomabkommen von 2015 gelänge, was derzeit vor allem am Iran scheitert.

Zugleich aber wäre es töricht, den Konflikt auf die nukleare Dimension zu reduzieren. In anderen Regionen der Welt verfolgen Regierungen aufmerksam, wie verlässlich die USA als Verbündete sind. Was Washington im Nahen Osten tut, hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der USA auch im Südchinesischen Meer – niemand dort kann es sich leisten, sich auf gut Glück mit Peking anzulegen.

Russland und China stehen bereit, wo immer die USA zurückweichen. Putins Interventionen in Syrien und Libyen sind wie Pekings neue Seidenstrasse oft weder mit den Interessen der USA vereinbar noch mit jenen Europas – Migration ist hier nur ein Stichwort. Ähnliches dürfte für die Offerten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gelten, sich in Afghanistan zu engagieren. Wer glaubt, sich aus der Verantwortung stehlen zu können, muss damit rechnen, am Ende einen noch höheren Preis zu bezahlen. Das ist leider auch in Afghanistan längst nicht ausgeschlossen.

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