Analyse zu AfghanistanDer Jihad erlebt ein berauschendes Comeback
Die Angst vor einem Terror-Emirat in Afghanistan ist verfrüht. Aber klar ist, dass der Sieg der Taliban Islamisten in aller Welt beflügelt.
Die Welt schaut entsetzt nach Kabul: Langbärtige Taliban-Kämpfer flegeln mit Gewehren und Panzerfäusten im Präsidentenpalast, Familien stürmen panisch den Flughafen, verzweifelte Afghaninnen flehen via Twitter und Facebook um Hilfe. Doch nicht alle sehen in der Eroberung Kabuls ein Unheil. Manche frohlocken.
Der Sieg der afghanischen Islamisten komme der Rückkehr des Propheten Mohammed nach Mekka gleich, schrieb ein Begeisterter in den sozialen Medien. Der Religionsstifter hatte 622 n. Chr. mit seinen Getreuen aus seiner Heimatstadt ins 300 Kilometer entfernte Medina fliehen müssen. Wenige Jahre später eroberten die Muslime die heidnische Metropole zurück. Die Rückkehr nach Mekka steht für den Siegeszug des Islam, der nach Asien, Afrika und Europa hineinführte. (Lesen Sie den Artikel «Bilder des Zusammenbruchs».)
Die Taliban sind zurück in Kabul: Ihre Sache muss also gottgefällig sein.
Eingefleischte Islamisten und Jihadisten werden mit dem Mekka-Kabul-Vergleich etwas anfangen können. Die Taliban hatten ihr vermeintlich gottgefälliges Scharia-Emirat 1996 ausgerufen, und sie wurden nach dem 11. September 2001 wegen ihrer Gastfreundschaft für Osama Bin Laden und seine Terrorgruppe al-Qaida von den USA und der Nato verjagt. Zwanzig Jahre haben die Islamisten danach gegen die «Besatzer» gekämpft: Nichts anderes waren für sie die Westtruppen – trotz Nation-Building und Aufbauhilfe.
Jetzt ziehen die gottlosen Amerikaner und Europäer ab, in Panik. Nicht militärisch geschlagen. Aber gedemütigt, vorgeführt als wortbrüchige Versager. Die Taliban hingegen sind zurück in Kabul: Ihre Sache muss also gottgefällig sein. Und damit – aus Sicht jedes Jihadisten – auch der 11. September, der Angriff auf New York, das Herz des Westens. Der Tod Bin Ladens, der von US-Soldaten erschossen wurde, ist ebenfalls gerächt. Die Sache dieses Scheichs und seiner al-Qaida war am Ende erfolgreich.
Der Jihad ist kein Ort, der Jihad ist eine Idee. Dieser Idee hängen weltweit Menschen an. Und zwar nicht nur in der von Gläubigen und Islamwissenschaftlern gern betonten Form von Frömmigkeit und dem Bemühen um Gottgefälligkeit. Sondern manche eben auch in seiner gewalttätigen Form: Autobombe, Kalaschnikow, Kopfabschneiden. Dass dies mit dem Islam als Religion nicht zwingend zu tun hat, ist in der Praxis gleichgültig.
Die Grenzen zwischen Islamismus und Jihadismus sind fliessend. Auch die Taliban sind nicht nur «national» gesinnte Befreiungskämpfer, sondern auch Jihadisten. Auch wenn sie nur in ihrem Land gekämpft haben, sind sie zumindest im Hinterkopf Anhänger jenes militanten Islam, der global denkt und kämpft.
Die Terrorgefahr durch die Ideologie des Jihadismus ist unbestreitbar: Die Beispiele reichen von den Twin Towers in New York bis hin nach Paris und Berlin. Und kaum etwas hat die Idee so beflügelt wie die Afghanistan-Niederlage der Sowjetunion 1989. Die Schlappe einer Supermacht – USA 2021 – hat sich nun wiederholt, ging digital um die Welt. All die Jihadisten und Islamisten weltweit sehen nun trotz ihrer eigenen Niederlagen – in Syrien, in Ägypten, im Irak, in Tschetschenien –, dass der Kampf am Ende zum Ziel führt.
Manche werden nach Afghanistan ziehen wollen, von dort aus den Krieg in ihre Länder tragen wollen. Andere werden weiter grosse Mächte – die USA, Russland, vielleicht China – von ihrer Heimat aus angreifen wollen. Und Nichtmilitante, die den in der muslimischen Welt chronischen Antiamerikanismus teilen, könnten zu Anhängern einer Ideologie werden, die dem kämpferischen Islam den Vorzug gibt vor dem Gedanken der Versöhnung der Religionen und Kulturen.
Dass die Taliban-Führer sich offen mit den Enkeln von Bin Laden verbrüdern, ist eher unwahrscheinlich.
Das Taliban-Afghanistan, Version 2021, als Motor einer neuen Terror-Ära also? Manches spricht zum Glück dafür, dass die sich zumindest in der Stunde des Triumphs handzahm gebenden Islamisten aus ihren Fehlern gelernt haben. Sie wissen, dass sie die Macht 2001 wegen ihrer eisernen Treue zu Osama Bin Laden verloren haben. Jetzt, 20 Jahre später, werden sie die Herrschaft über Afghanistan behalten wollen. Dazu brauchen sie Hilfsgelder aus dem Ausland: Gastfreundschaft für Terroristenfürsten würde dies unmöglich machen.
Dass die Taliban-Führer sich offen mit den Enkeln von Bin Laden verbrüdern, ist eher unwahrscheinlich. Aber garantieren kann es keiner. Und zu den Taliban gehören auch pakistanische Kämpfer, Jihadisten aus den zentralasiatischen Nachbarländern, Militante aus China, der arabischen Welt. Selbst der «Islamische Staat» ist im Land. Solange die Taliban ihr Reich nicht komplett im Griff haben, könnten Jihadisten in den unwegsamen Bergen schnell Unterschlupf finden.
Es wäre voreilig, bereits panisch vor einem neuen Terror-Emirat zu warnen. Aber unbestreitbar ist: Die Idee des Jihad erlebt gerade ein berauschendes Revival. Und der Sieg der Taliban beflügelt auch all die Militanten, die nicht in Kabul sind, sondern irgendwo auf der Welt auf ihre Chance warten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.