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Glaziologe zwischen Eis und TangoDer Holländer, der den Schweizer Gletscher­­forschern voraus war

Hans Oerlemans gehört zu den Koryphäen unter den Gletscherforschern, kennt den Morteratsch wie kein anderer – und vermittelt sein Wissen auch mithilfe von Musik.

Die Schweiz ist für ihn bis heute ein Lebensmittelpunkt. Der holländische Gletscherforscher Hans Oerlemans in Bad Ragaz. 
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Er winkt schon von weitem, grüsst, setzt sich und sagt in perfektem Deutsch mit leichtem holländischem Akzent: «Heute Abend geht es noch zum Tango in Bozen.» 

Der angesehene Gletscherforscher Hans Oerlemans hat vor einem halben Jahr für sein Lebenswerk den renommierten Balzan-Preis erhalten. In der Gartenwirtschaft des Hotels Aurora in Meran zeigt er seine private Seite. Blau gestreiftes Hemd, Gilet, weisse Hosen und Scarpa-Turnschuhe. Der 73-jährige Wissenschaftler hat sich leidenschaftlich dem Tango verschrieben.

Oerlemans kommt an diesem Tag vom Schnalstal, das nicht weit von Meran entfernt ist. Dort hat er im idyllischen Klosterdorf Kartaus an der zehntägigen Summer School für Glaziologen und Glaziologinnen referiert. Er war es, der den ersten Kurs 1995 ins Leben rief. Seither hat er Generationen von Gletscherforschenden als Mentor begleitet. «Er gehört definitiv zu den Koryphäen unter den heutigen Gletscherforschern», sagt Michael Zemp, Glaziologe an der Universität Zürich und Direktor des World Glacier Monitoring Service.

Und die Musik spielt dabei eine besondere Rolle. So verfolgt der Holländer unkonventionelle Wege, sein Wissen zu vermitteln. «Grundsätzlich wird das Publikum an Vorträgen schnell einmal müde, aber wenn man einen Tango dazwischen spielt, wird es wieder wach», schmunzelt der Gitarrist und Bassist Oerlemans. Das macht er seit vielen Jahren etwa mit seinem Engadiner Kollegen, dem Glaziologen und Geiger Felix Keller. Die beiden haben das Duo TangoGlaciar gegründet. Mit einem eindringlichen Tango oder einem beklemmenden Requiem erzählen sie etwa (Kostproben gibt es einige im Internet) die Geschichte vom Sterben und der Rettung des Morteratschgletschers.    

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Die Messreihe zur Energiebilanz des Morteratschgletschers gehört dank Oerlemans’ Arbeit zu den längsten der Welt. Mithilfe dieser Daten konnten er und Keller aufzeigen, dass der Eisschwund des Morteratsch durch Beschneiung gestoppt werden könnte, wenn rund zehn Prozent der Fläche ganzjährig mit Schnee bedeckt wären. Dazu liessen sie ein Seil mit Schneiköpfen von einer Schweizer Firma entwickeln, das – so die Idee – von Fels zu Fels gespannt wird. Das Wasser für die künstliche Schneeproduktion würde aus einem See stammen, der so hoch über den Schneiseilen liegt, dass allein durch die Schwerkraft ohne elektrische Energie ein genügend hoher Wasserdruck zur Schneeproduktion erzeugt werden kann. «Die Technik funktioniert, aber ausführen lässt sich dieses System vermutlich nur dort, wo es Pisten gibt, sonst wird es schwierig, Geld aufzutreiben», sagt Hans Oerlemans.

Er kennt den Morteratsch wie kein anderer in der Schweiz. Was motiviert einen Niederländer, sich mit Gletschern zu beschäftigen? «Der Meeresspiegel», sagt Oerlemans prompt. Um das zu verstehen, greift er weit zurück. Die Gletscher standen vorerst nicht im Vordergrund auf dem Weg seiner Karriere. Oerlemans studiert Geophysik, macht 1977 sein Diplom an der Universität Utrecht und steigt am Niederländischen Wetteramt ins Berufsleben ein. «Es war ein strategisches Institut, das über den stärksten Computer in den Niederlanden verfügte und auch für das Militär arbeitete», erinnert sich der Wissenschaftler. Sein Auftrag war: langfristige Wettervorhersagen. «Daran scheitern wir bis heute», sagt er trocken.

«Unsere Voraussagen zum Anstieg des Meeresspiegels waren schon damals dramatisch.»

Hans Oerlemans, Gletscherforscher Universität Utrecht 

Allzu lange halten ihn die Wetterprognosen nicht auf. Bald sucht der junge Geophysiker nach neuen Themen und entdeckt, dass es noch grosse Wissenslücken auf dem Gebiet der Eiszeiten gibt. So macht Oerlemans erste Simulationen, um das «Mysterium der verschiedenen Eiszyklen im Pleistozän» zu lösen. Dieses Zeitalter begann vor zwei Millionen Jahren und endete vor etwa 10’000 Jahren mit der letzten Kaltzeit. 

Sein nächster Schritt erscheint nur logisch: Er geht 1980 zurück an die Universität Utrecht und will nun wissen, wie der Meeresspiegel auf die immensen Schwankungen der grossen Eisschilde in der Arktis und der Antarktis durch den Klimawandel reagiert. 1989 – inzwischen Professor für Klimadynamik an der Universität Utrecht – macht Oerlemans in einem Beitrag in der Fachzeitschrift «Climatic Change» eine Voraussage für den Meeresspiegelanstieg unter den Bedingungen der aktuellen Erderwärmung. 

Die wichtigsten Faktoren sind dabei: die schmelzenden polaren Eisschilde und die thermische Ausdehnung des Meerwassers. «Es war damals schon dramatisch, unsere frühen Projektionen unterscheiden sich gar nicht so stark im Vergleich zu den heutigen Modellen», sagt er. 

Für ihn als Niederländer sind die Daten bedrohlich. «Wir reagieren vielleicht sensibler auf den Klimawandel als etwa die Schweizer, weil wir durch den Anstieg des Meeresspiegels direkt betroffen sind.» Das sagt er ohne alarmistischen Unterton. «Die Daten sind eindeutig, dennoch tun auch die Niederlande immer noch zu wenig.» Der Bevölkerungsdruck führe dazu, dass noch heute in künftigen Gefahrenzonen gebaut werde. 

Pionierforschung im Oberengadin

«Hans ist ein Perfektionist», sagt Glaziologe Felix Keller. Oerlemans erkennt Ende der 1980er-Jahre, dass verschiedene physikalische Prozesse, wie Eis auf klimatische Veränderungen reagiert, letztlich nur mit meteorologischen Daten verstanden werden können. Diese Informationen waren zu dieser Zeit nur marginal vorhanden. «Mich interessierten Wetterdaten, die auf dem Eis alpiner Gletscher gemessen werden», sagt der Gletscherforscher. Das war Neuland. 

Nun beginnt seine Zeit in der Schweiz – obwohl er skeptisch war gegenüber der Arbeit der Schweizer Gletscherforschung. «Die Schweizer hatten viel gemessen, aber meteorologische Daten sammelten sie damals kaum, das war unverständlich.» Dennoch findet Oerlemans im Oberengadin den idealen Gletscher für seine Pionierforschung. Der Morteratsch ist einer der grössten Gletscher in der Schweiz, und keiner in dieser Grössenordnung  ist so gut im Sommer wie auch im Winter zugänglich. Ein leicht ansteigender Wanderweg führt von der Station Morteratsch der Rhätischen Bahn bis zur Zunge des Gletschers.

Hinzu kam: Der Mikrochip wurde erfunden und die Lithiumbatterie entwickelt. Damit funktionierten die Datenspeicherung und die Energieversorgung auch unter extremen Temperaturschwankungen. 

Kein grosser Gletscher in der Schweiz ist so gut zugänglich wie der Morteratschgletscher im Oberengadin. 

Der Bau der Messstation ging trotzdem nicht problemlos über die Bühne. Oerlemans erinnert sich und lacht: «Ein knorriger Beamter sagte mir: ‹Herr Oerlemans, im Engadin wird nichts mehr gebaut.›» Da half auch nicht die Erklärung, dass seine Messstation innerhalb einer Stunde abgebaut werden könne. Es brauchte einen Brief des bekannten Schweizer Gletscherforschers Wilfried Haeberlin und das Versprechen, im Gemeindezentrum ab und zu Wissenschaftskonferenzen abzuhalten. Das war 1994. 

 Messstation musste mehrmals verlegt werden

Der Bau der Messstation war auch technisch ein schwieriges Unterfangen. Wie soll auf einem Fundament gebaut werden, das sich durch die Schmelz- und Gefriervorgänge während des Jahres ständig verändert? «Der Mast der Station stand auf vier Beinen, welche die Eisschwankungen ausbalancieren konnten», erklärt Oerlemans. 1995 ging die Messstation in Betrieb, bis heute liefert sie Daten zu Temperatur, Wind, Feuchtigkeit und Strahlung. Es gibt weltweit keinen vergleichbaren Gletscher, der seit bald 30 Jahren ununterbrochen vermessen wird.

Aus den Daten erkannten er und sein Forschungsteam: Wird es 1 Grad wärmer, dann verliert die Gletscherzunge eine zusätzliche Eisschicht von 2 Metern. «Als wir mit den Messungen begannen, betrug im Sommerhalbjahr der Verlust auf der Zunge 4 bis 5 Meter pro Jahr, heute sind es 6 bis 7 Meter», erklärt Hans Oerlemans. Der Morteratschgletscher zieht sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, in den letzten 140 Jahren um knapp 3 Kilometer. Scheinbar unaufhaltsam. Die Messstation musste bisher mehrmals verlegt werden.


Oerlemans hat die Bedeutung meteorologischer Daten aufgezeigt, um die Dynamik des Eises zu verstehen und die Modelle zu verbessern. Das gehört zu den wichtigen Beiträgen in der modernen Gletscherforschung, wie es in der Begründung zum Balzan-Preis heisst. Inzwischen gibt es weltweit Messstationen auf dem Eis in Grönland, auf Island oder in Norwegen und Neuseeland. Hinzu kommen Daten aus Luftbildern und Satellitendaten.

«Wir haben es vor 30 Jahren vorausgesagt, generell hören Politiker zu wenig auf die Wissenschaft.»

Hans Oerlemans, Glaziologe

Es gibt Hunderttausende Gletscher weltweit, nur ein Bruchteil lässt sich aber vor Ort vermessen. «Aber man kann heute abhängig vom Klima Kategorien machen, Alpengletscher zum Beispiel verhalten sich ähnlich wie das Eis im Himalaja, Gletscher in Norwegen sind vergleichbar mit jenen in Neuseeland», sagt der holländische Forscher. So lassen sich heute relativ zuverlässig Massen- und Energiebilanzen mithilfe von Modellen für die einzelnen Gletscher machen.

Ohne den Zeigefinger zu heben, ruhig und sachlich sagt Hans Oerlemans: «Ich sehe nicht optimistisch in die Zukunft, die Gletscher weltweit sind aus dem Gleichgewicht, sie würden weiter abschmelzen, selbst wenn der Klimawandel gestoppt wird.» Ganz nebenbei fügt er hinzu und schüttelt den Kopf: «Wir haben es vor 30 Jahren vorausgesagt, generell hören Politiker zu wenig auf die Wissenschaft.»