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Forscher vermessen Eisverlust
Erstmals gibt es Daten zu allen 200'000 Gletschern der Welt

Der Matanuska-Gletscher in der Nähe von Palmer, Alaska: Die Gletscher Alaskas schmelzen am schnellsten. 
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Es ist eine unvorstellbar grosse Zahl: Die Gletscher der Welt verloren in den letzten gut zwanzig Jahren jährlich im Durchschnitt 267 Milliarden Tonnen Eis. Das entspricht etwa fünfmal dem aktuellen Volumen der Schweizer Gletscher. Und dabei sind die Eisschilder in Grönland und der Antarktis nicht eingerechnet. Die ETH Zürich schreibt dazu: «Mit diesem Volumen hätte die Landesfläche der Schweiz alljährlich sechs Meter unter Wasser gesetzt werden können.»

Erstmals hat ein internationales Forscherteam unter der Federführung der ETH und der Universität Toulouse praktisch alle Gletscher der Welt vermessen – abgesehen von den grossen Eisschilden Grönlands und der Antarktis. Das sind rund 220’000 Gletscher, die ein Fläche von etwa 97 Prozent abdecken. Die neuen Daten wurden heute im angesehenen Fachmagazin «Nature» veröffentlicht.

Bereits vor zwei Jahren machte ein Glaziologe der Universität Zürich in der gleichen Publikation Schlagzeilen. Michael Zemp, Leiter des World Glacier Monitoring Service, hatte zusammen mit einem internationalen Forscherteam ebenfalls die weltweite Gletscherlandschaft neu vermessen und «das grosse Bild» zum globalen Gletscherschwund aufgezeigt. «Wir konnten damals etwa ein Viertel der weltweiten Gletscherflächen abdecken, nun ist es praktisch eine globale Abdeckung, das ist die grosse Stärke dieser ausgezeichneten Studie», sagt Zemp. Die neuen Ergebnisse widersprechen den früheren Daten im Trend nicht, aber sie weisen einen deutlich kleineren Fehlerbereich auf und zeigen damit viel präziser, wie stark die Gletscher an Masse verlieren.

«Die Welt muss nun wirklich Hand anlegen, damit wir punkto Klimaänderungen das Schlimmste noch abwenden können», sagt Daniel Farinotti, Mitautor und Leiter der Glaziologie-Gruppe an der ETH Zürich und der Forschungsanstalt WSL in Birmensdorf. Die Gletscher weltweit speichern etwa 158’000 Milliarden Tonnen Eis. Allein in den letzten zwanzig Jahren haben sie gemäss der neuen Studie vergleichsweise etwa 3,3 Prozent der Eismasse von 2020 verloren.

Das scheint ein kleiner Verlust zu sein. Doch der globale Durchschnitt täuscht. Es gibt Regionen, in denen die Eisschmelze den Gletschern weit stärker zusetzt. Das beste Beispiel ist die Schweiz. «10 Prozent des Eisvolumens der Schweizer Gletscher gingen allein in den letzten fünf Jahren verloren», erklärt Farinotti. Beunruhigend ist, dass sich der Gletscherschwund in den letzten zwanzig Jahren stetig beschleunigt hat – um rund 48 Milliarden Tonnen pro Dekade, was der Masse der Schweizer Gletscher entspricht.

Touristen an der Zunge des Aletschgletschers: Auch dieser Schweizer Gletscher, der längste Europas, verliert Jahr für Jahr deutlich an Masse.

Die Alpen, Alaska und Island gehören zu jenen Eislandschaften der Welt, die am schnellsten schmelzen. Der Schwund der Schweizer Gletscher wird den Wasserhaushalt unseres Landes zweifellos verändern, auf die Erhöhung des Meeresspiegels hat er jedoch nur einen marginalen Einfluss. Die umfassende Studie zeigt, dass sich mit dem Massenverlust der Gletscher zu gut 20 Prozent die Erhöhung des Meeresspiegels seit 2000 erklären lässt. Das entspricht einem jährlichen Anstieg von etwa 0,74 Millimetern. Den höchsten Anteil hat dabei der Eisverlust in Alaska.

In vierzig Jahren könnte bis zu eine Milliarde Menschen in tief liegenden Küstengebieten leben.

Weltklimarat IPCC

Klimaforscher gehen davon aus, dass der Meeresspiegel seit den 1960er-Jahren im Durchschnitt um rund 27 Millimeter durch die schmelzenden Gletscher angestiegen ist. Insgesamt hat er sich in den letzten hundert Jahren um rund 200 Millimeter erhöht. Für rund die Hälfte ist die Abschmelzung der Gletscher und der Eisschilde in Grönland und der Antarktis dafür verantwortlich. Die restlichen 50 Prozent gehen auf die thermische Ausdehnung des sich erwärmenden Meerwassers zurück.

Etwa 680 Millionen Menschen leben in tief liegenden Küstenregionen. In vierzig Jahren, so rechnet der Weltklimarat IPCC, könnte bis zu eine Milliarde Menschen in diesen Gebieten leben. Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung schätzen, dass ohne Schutzmassnahmen bereits ein Hub des Meeresspiegels von etwas mehr als 100 Millimetern gegenüber 2010 die Milliarden Schadenkosten nach einer extremen Sturmflut verdoppeln. Szenarien des IPCC zeigen, dass der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um fast einen Meter ansteigen kann, wenn die Treibhausgasemissionen wie bisher ansteigen.

Die Autoren der neuen Gletscherstudie erinnern aber auch an die mehr als eine Milliarde Menschen, die innerhalb der nächsten dreissig Jahre unter Wassermangel und entsprechend grossen Ernteausfällen leiden könnten. Dank der grossen räumlichen Auflösung können die Forschenden ihre Daten auf einzelne Gletscher beziehen und entsprechend genauere Vorhersagen nicht nur auf globaler, sondern auch auf lokaler Ebene machen. «Schrumpfen die Himalaja-Gletscher weiterhin mit steigendem Tempo, könnten bevölkerungsreichen Staaten wie Indien oder Bangladesh in wenigen Jahrzehnten Wassernot und Nahrungsmittelengpässe drohen», sagt der Erstautor der Studie Romain Hugonnet von der ETH Zürich und der Universität Toulouse.

Hugonnet, Doktorand an der ETH Zürich, hat rund drei Jahre an diesem Projekt gearbeitet. Die Wissenschaftler haben dabei die Daten des Multispektralinstruments Aster analysiert, das auf dem Nasa-Satelliten «Terra» seit 1999 die Erde umkreist. Aster nimmt mit zwei Kameras die Erdoberfläche auf. So entstehen Bilderpaare, sogenannte Stereobilder. Aus diesen Aufnahmen lassen sich von allen Gletschern weltweit zeitlich und räumlich hochaufgelöste digitale Höhenmodelle konstruieren. Die Forschenden konnten dann aus den Höhenwerten der Gletscher die Veränderung der Eisdicke und der Masse berechnen.

Phänomen entdeckt

Dank der grossen räumlichen Auflösung dieser Methode haben die Forschenden noch ein anderes Phänomen erklären können: Die Schmelzraten etwa an der Ostküste Grönlands, in Island und Skandinavien haben sich zwischen 2000 und 2019 verlangsamt. Die Forschenden führen diese Entwicklung auf eine Wetterstörung im Nordatlantik zurück: Sind Islandtief und Azorenhoch relativ schwach ausgebildet, fliesst weniger wärmeres Wasser aus dem Süden nach Norden, und das Wasser etwa um die Südspitze von Grönland wird verstärkt durch kaltes Wasser aus dem Norden gespeist. Dieses Phänomen bringt lokal höheren Niederschlag und tiefere Temperaturen, was den Eisschwund bremst. Umgekehrt ist es im südasiatischen Karakorum-Gebirge. Dort veränderten sich die Gletscher vor 2010 kaum, nahmen sogar zu. Die neue Studie zeigt, dass das Eis nun an Masse einbüsst.

Eine neue Dimension

Für den Zürcher Glaziologen Michael Zemp eröffnet sich durch die neuen Daten eine neue Dimension. «Eine Schwäche der Studie ist, dass zum Beispiel saisonale Veränderungen der Gletscher nur ungenau berechnet werden können.» Dafür brauche es Feldmessungen. Das World Glacier Monitoring erfasst Daten von rund 200 Gletschern weltweit, deren jährliche Schwankungen aufwendig, aber zuverlässig seit Jahrzehnten gemessen werden. «Es wird interessant sein, die neuen geodätischen Daten mit den Feldmessungen zu kombinieren.» So könnten zum Beispiel jährliche hydrologische Vorhersagen für einzelne Regionen deutlich exakter werden. Die neuen Gletscherdaten sind frei verfügbar und können über den Zugang des World Glacier Monitoring abgerufen werden.

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