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Interview zum Gletscherschwund
«Wenn wir das nicht schaffen, dann verlieren wir unsere weissen Berge»

Die kleinen Gletscher werden wir auf jeden Fall verlieren, sagt Matthias Huss. Wenn wir die grossen noch retten wollen, müssen wir schnell handeln, so der ETH-Glaziologe.
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In den letzten Wochen besuchten Matthias Huss und sein Team 15 Gletscher, verteilt über die ganze Schweiz. Der ETH-Glaziologe und Leiter des Schweizer Messnetzes Glamos vermisst jeweils im April die Eisriesen, weil nach den Schneefällen im Winter etwa zu dieser Zeit die maximale Schneehöhe erreicht wird.

Bei den Messungen vor einem Jahr stellte Huss fest, dass erschreckend wenig Schnee lag – prompt kam es im Sommer 2022 zu einer historischen Gletscherschmelze. Damals flossen in einer Woche im Juni mehr als 300 Millionen Tonnen Schnee und Eis der Schweizer Gletscher weg. Damit könnte man alle fünf Sekunden ein olympisches Schwimmbecken füllen. «Was aktuell passiert, habe ich so noch nie gesehen», sagte Huss im September zur SonntagsZeitung.

Man könnte meinen, dass sich die Natur nach einem derart drastischen Negativrekord erst einmal wieder beruhigt. Doch die neuen Messungen, die Huss und sein Team jetzt gemacht haben, zeigen eine bittere Realität.

Herr Huss, das letzte Jahr war eine Katastrophe für die Schweizer Gletscher. Sieht es dieses Jahr besser aus?

Praktisch alle Gletscher sind leider auch dieses Jahr in einem ähnlich schlechten Zustand wie im April 2022, zum Teil ist es sogar noch schlimmer. Nur ganz im Westen des Landes sieht es besser aus. Schweizweit liegen wir wieder weit unter dem Durchschnitt. Der Zustand der Schweizer Gletscher ist nun schon im zweiten Jahr in Folge kritisch zum Beginn der Schmelzperiode.

Heisst das, wir laufen schon wieder auf eine Rekordschmelze zu?

Das kann man jetzt noch nicht sagen. Aber das Risiko steigt. 2022 hatten wir ähnlich wenig Schnee im April wie jetzt, und das war einer der wesentlichen Gründe für die Rekordschmelze. Aber wir hatten damals auch einen sehr warmen Mai und dann einen Hitzesommer. Es wird weniger schlimm für die Gletscher, wenn es dieses Jahr kühler bleibt, wie zum Beispiel 2019, als die Schmelze erst spät einsetzte.

Und wenn nicht? Klimatologen rechnen global mit noch höheren Temperaturen dieses Jahr als 2022.

Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber momentan ist das Risiko sehr gross, dass wir wieder einen massiven Verlust bei den Gletschern haben werden. Wenn es im Winter keinen Schnee gibt, fehlt die «Nahrung» für die Gletscher, und das Eis hat keine schützende Schicht, sobald die Temperaturen steigen.

Letztes Jahr lag um diese Zeit beim Findelgletscher oberhalb von Zermatt praktisch kein Schnee.

Das ist dieses Jahr wieder praktisch gleich. Es hat wieder nur eine dünne Schneeschicht. Und wir messen dort auf der Cima di Jazzi, auf 3800 Metern wohlgemerkt. Wenn dort im Winter fast kein Schnee liegt, kann das auch gefährlich für die Messungen sein.

Inwiefern?

Normalerweise liegen dort oben mehrere Meter Schnee im April. Diese bedecken die Gletscherspalten, und wir mussten uns bisher nie anseilen. Doch letztes und auch dieses Jahr waren die Spalten nur unter einer dünnen Schneeschicht versteckt, und es bestand die Gefahr, einzubrechen.

Dieses Jahr waren Sie sogar auf dem Walliser Strahlhorn auf über 4000 Metern. Wie sah es dort aus?

Für unser Messprogramm war es die erste Messung überhaupt auf über 4000 Metern. Zu unserem Erstaunen lag selbst in diesen Höhen schlicht null Schnee. Da kam das blanke Eis zum Vorschein. Es ist möglich, dass sich im Mai, wenn es langsam wärmer wird, noch etwas Schnee anlagert. Aber eben, das wissen wir jetzt noch nicht.

Warum gibt es so weit oben keinen Schnee?

Womöglich sehen wir hier auch einen Effekt der letztjährigen Rekordschmelze. Im Herbst war auf dem Strahlhorn nur noch eine spiegelglatte, eisige Oberfläche übrig statt einer Altschneeschicht. Auf der konnte sich kalter Schnee im Winter dann kaum noch ablagern. Der Schnee hatte bei den Winden da oben keine Chance, sich zu halten. Er wird einfach weggeblasen, und das hat man sehr eindrücklich gesehen.

Was bedeutet es für einen Gletscher, wenn selbst so hoch kein Schnee liegt?

Es war wie gesagt die erste Messung über 4000 Metern. Wir wissen also nicht, wie oft das schon vorkam. Aber klar ist, dass sich der Gletscher in diesen Höhen vom Schnee ernähren muss. Im unteren Teil geht immer Eis verloren, auch in kühleren Jahren, und das muss im oberen Teil kompensiert werden. Wenn er im Winter zu wenig oder keinen Schnee erhält, dann kann das nicht aufgehen. Verliert er also auf 4000 Metern an Masse, dann hält das langfristig kein Gletscher aus. Ohne Schnee keine Gletscher, das ist ganz einfach.

Seit Wochen regnet es in tieferen Lagen. Hat es auf 4000 Metern nicht entsprechend viel geschneit?

Doch, wir haben nach einem sehr trockenen Winter im Hochgebirge noch deutlich aufgeholt mit der Schneemenge im April. Unsere Messungen zeigen jedoch, dass dies nicht gereicht hat, um das Defizit auszugleichen.

«Wir hatten zum ersten Mal einen Verlust auf dem Jungfraujoch.»

Wie ist die Lage auf dem Jungfraujoch, einem der Aushängeschilder der Schweiz?

Der Schnee, der dort im Winter fällt, schmilzt im Sommer immer nur zu einem Teil. Das zeigen Messungen, die seit 1921 mit genau derselben Technik jedes Jahr ausgeführt werden. Den Rest braucht der Gletscher zum Wachsen. Aber letzten Sommer schmolz zum ersten Mal überhaupt mehr Schnee, als im Winter davor gefallen war. Wir hatten also zum ersten Mal einen Verlust auf dem Jungfraujoch. Das lag auch daran, dass im Jahr 2022 so wenig Schnee lag. Diesen Winter aber fanden wir Ende März an denselben Stellen sogar noch weniger Schnee.

Gibt es auch positive Beispiele?

Im Westen hatten wir im Dezember und Januar einige Wetterlagen, die viel Schnee brachten. Deswegen liegt zum Beispiel der Tsanfleuron-Gletscher bei Les Diablerets sogar ein wenig über dem Durchschnitt. Schlimm ist es vor allem im südlichen Wallis, im Tessin und im Engadin. Auf dem Persgletscher gleich neben dem Morteratsch müssten auf der Zunge zu dieser Zeit über zwei Meter Schnee liegen. Wir fanden dann oft weniger als einen Meter.

Von den 20 Gletschern, die Sie genau vermessen, mussten Sie letztes Jahr bei dreien die Messungen einstellen. Wie sieht es dieses Jahr aus?

2023 müssen wir vermutlich auch die Messungen auf dem St. Annafirn oberhalb von Andermatt aufgeben. Nicht, weil der Gletscher komplett weg ist, sondern weil er einfach so stark in sich zusammengefallen ist. Er löst sich auf und ist nur noch von Schutt bedeckt. Da lohnt es sich nicht mehr, weiter zu messen. Es wäre auch zu gefährlich wegen des Steinschlags aus den instabilen Felsflanken. Letztes Jahr stürzten fortlaufend Felsblöcke herunter.

Sind denn die kleinen Gletscher überhaupt noch zu retten?

Nein, wir werden sie auf jeden Fall verlieren, selbst wenn wir es schaffen sollten, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, und das ist bereits jetzt für die Staatengemeinschaft eine riesige Herausforderung. Wir müssen versuchen, das Klima so zu stabilisieren, dass wir wenigstens die grossen Gletscher noch retten können. Wenn wir das nicht schaffen, dann verlieren wir unsere weissen Berge. Im Sommer haben wir dann nur noch graue Geröllhalden.

Sie setzen sich für die Annahme des Klimaschutzgesetzes ein, über das wir am 18. Juni abstimmen. Die Gegner sagen, das Gesetz sei zu teuer, wir sollten einen anderen Weg beschreiten.

Wir haben definitiv keine Zeit mehr, Jahrzehnte zu debattieren. Wir reden über den Klimawandel ja nun auch schon seit mindestens 30 Jahren. Die Klimamodelle haben sich bestätigt, und wir leiden bereits weltweit unter Extremereignissen. Wir müssen jetzt handeln. Wenn man auf so einem Gletscher steht, wenn man immer wieder an denselben Ort geht und sieht, wie schnell sich die Landschaft verändert, dann wird einem das sehr eindrücklich klar. Und für uns in der Schweiz ist Klimaschutz auch Landschaftsschutz.

Inwiefern?

Wenn wir unser wunderschönes Alpenpanorama bewahren wollen, wenn wir im Winter noch Skifahren wollen, statt auf weissen Kunstschneebändern runterzurutschen, dann müssen wir den Klimawandel stoppen. Die reiche Schweiz kann und muss hier ihren Beitrag leisten. Das können wir uns auch etwas kosten lassen. Langfristig zahlt sich das in jedem Fall aus.