Mit einer spektakulären Aktion will er den Gletscher retten
Die Vision des Glaziologen Felix Keller wird Realität: Ein neues Beschneiungsverfahren soll den Rückgang des Morteratsch bremsen.
Es war eine «verrückte» Idee vor fünf Jahren, an die er selbst noch nicht so richtig glaubte. Heute sagt Felix Keller: «Ich setze alles darauf. Wenn man da nicht Vollgas gibt, fällt man beim ersten Gegenwind um.»
Der Engadiner Glaziologe will den Rückgang des Morteratsch-Gletschers bremsen – mit einer spektakulären Aktion, der Beschneiung einer Eisfläche von knapp einem Quadratkilometer. Was einst ein «Wolkenschloss» war, wie er sagt, könnte Realität werden. Keller ist geradezu beseelt von seinem Plan: «Noch vor zwei Jahren war es eine Vision, nun wird die notwendige Technologie dazu entwickelt.» Sie wird noch dieses Jahr getestet werden, wenn alles nach Plan läuft. Vorerst im Skigebiet Corvatsch im Oberengadin. In diesen Tagen soll das Baugesuch dafür eingereicht werden.
Seine gesamte freie Zeit widmet er dem Megaprojekt. Dabei findet er immer wieder Schnittstellen mit seiner eigentlichen Tätigkeit: Keller ist Co-Leiter des Europäischen Tourismusinstituts an der Academia Engiadina in Samedan, Projektleiter an der Fachhochschule Graubünden und Dozent für Fachdidaktik und Umweltlehre an der ETH Zürich. Wie er das alles unter einen Hut bringt, ist ein Rätsel.
Keller initiierte in den letzten Jahren die Gründung des Vereins Ice Stupa International, der das Projekt «Mort Alive» lancierte. Er brachte Forscher, Ingenieure und die Industrie zusammen. Er reiste an die Weltwasserwoche nach Stockholm, zum Internationalen Rotary-Kongress nach Hamburg und zum Weltfriedenskongress in Kalifornien. Seine Idee sollte ein weltweites Echo erhalten.
Musik als Türöffner
Sein Vorgehen ist dabei unkonventionell. Stets hat er die Geige dabei. Seine Vorträge untermalt Keller mit musikalischen Einlagen. Er ist überzeugt: «Musik kann Entscheidungsprozesse positiv unterstützen, weil sie Emotionen auslöst.» Positiv Denken ist das Credo von Keller. Mahnfinger liebt der Didaktikdozent nicht. Das irritiere ihn bei der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg – bei allem Respekt vor ihrer Leistung. «Ihr negativer Ton lähmt», meint er. «Wir müssen Freude daran haben, das Problem Klimaschutz zu lösen, eine positive Greta wäre schön und vielleicht noch wirkungsvoller.»
So hatte Keller das Instrument auch dabei, als er vom Premierminister der nordindischen Region Ladakh eingeladen wurde, über das «Mort Alive»-Projekt zu berichten, erzählt Keller bei einem Treffen in einem indischen Restaurant in St. Gallen, wo seine Lebenspartnerin wohnt.
Die Wahl des Lokals war kein Zufall.
Die indische Ladakh-Region war immer Teil des Morteratsch-Projekts. Als Keller seine Idee 2015 lancierte, wollte er vor allem sensibilisieren. Er lud zusammen mit dem Churer Architekten Conradin Clavuot den indischen Erfinder des konischen Eiskegels, Sonam Wangchuk, ins Oberengadin ein. Der Ingenieur baute im Himalaja-Hochland von Ladakh eine 2,3 Kilometer lange Pipeline, die im Winter spärlich vorhandenes Wasser ins Tal bringt. Dort wird es über eine Düse zerstäubt. So entstehen sogenannte Eisstupas, die Wasser zwischenspeichern. Im Frühling steht es dann den Bauern für die Bewässerung zur Verfügung.
Die Gemeinden Samedan und Pontresina waren beeindruckt und liessen den Bau von Stupas im Rosegtal zu, um der Bevölkerung die Bedeutung von Wasser als Lebensspender in Erinnerung zu rufen. «Wenn der Inn in 50 Jahren in einem Hitzesommer vielleicht einmal austrocknet, wird man erkennen, wie wichtig das Morteratsch-Eis ist», sagt Keller.
Neben dem Engadiner Glaziologen spielt auch der Niederländer Johannes Oerlemans von der Universität Utrecht eine wichtige Rolle. Der Glaziologe untersucht den Morteratsch seit Jahrzehnten. Ihm ist eine der weltweit längsten Messreihen zur Energiebilanz eines Gletschers zu verdanken. Anhand der Daten konnten die beiden Forscher aufzeigen, dass eine sommerliche Schneedecke in der mittleren Zone des Gletschers zwischen 2300 und 2500 Meter Höhe die Abschmelzung bremsen könnte, später sogar stoppen. Die vier bis acht Meter dicke künstliche Schneeschicht werde das Eis zu 100 Prozent vor der Sonne schützen.
Spektakuläre Beschneiung
Doch wie beschneit man eine so grosse Eisfläche? Um 30'000 Tonnen Schnee pro Tag zu produzieren, würden etwa 300 Schneelanzen benötigt. Doch Lanzen auf dem Gletscher kamen nicht infrage – und der Gletscher bewegt sich. Die Lösung ist spektakulärer und basiert auf einer von der Schweizer Firma Bächler patentierten Technologie – einer Beschneiungsanlage, die ohne elektrischen Strom Schnee herstellt.
Weil der Morteratsch zwischen steilen Felswänden eingezwängt ist, sieht das Projekt vor, Seile bestückt mit Schneiköpfen von Fels zu Fels zu spannen. Das Wasser für die künstliche Schneeproduktion stammt aus einem See, der so hoch über den Schneiseilen liegt, dass allein durch die Schwerkraft ohne elektrische Energie ein genügend hoher Wasserdruck zur Schneeproduktion erzeugt werden kann. Die Seilkonstruktion übernimmt die Schweizer Firma Bartholet, die als Hersteller von Seilbahnsystemen weltführend ist.
Keller geht es um mehr, als den Morteratsch zu retten.
Für manche ist Keller ein Tausendsassa, andere bewundern seine Begeisterungsfähigkeit. Die Kritik, sein Vorhaben sei nur eine millionenteure Symptombekämpfung, lässt er gelten. «Die Einwände sind berechtigt», sagt er. Aber ihm geht es schon lange um mehr, als den Morteratsch zu retten. 220 Millionen Menschen im Himalaja seien direkt vom Schmelzwasser der Gletscher abhängig.
«Es wäre toll, wenn die Schweiz ein Verfahren entwickeln könnte, um Gletscher als Süsswasserspeicher für kommende Generationen zu erhalten», sagt er und erzählt erneut von seinen Erfahrungen in Ladakh: In der Hauptstadt Leh auf rund 3300 Meter Höhe leben 30'000 Einwohner. Der Gletscher auf mehr als 5600 Meter Höhe ist deren Wasserquelle. Er ist nur noch einen halben Quadratkilometer gross. Die Menschen haben bereits begonnen, Grundwasser zu fördern. «Und wenn dort kein Tropfen mehr vorhanden ist, beginnen sie Wasser vom Indus hochzupumpen, da ist der Konflikt mit Pakistan vorprogrammiert», sagt Keller.
Nun hat er eine erste Etappe geschafft: Die Innosuisse, die Agentur für Innovationsförderung, unterstützt das Projekt mit einer Million Franken. Damit hat er zusammen mit anderen Sponsoren die Summe von 4,5 Millionen Franken fast zusammen, um in den nächsten 30 Monaten seinen Traum zu realisieren.
Noch ist aber das Morteratsch-Projekt nicht bewilligt, auch wenn die Gemeinde Pontresina seine Idee von Beginn weg finanziell unterstützte. Dennoch hat Keller bereits wieder Visionen: In Ladakh könnte man nicht nur den Gletscher beschneien, sondern mithilfe von Schneiseilen Hunderte Eisstupas produzieren. Dazu reichten Seile ohne teure Düsen, nur mit Wassersprenger. Die Eiskegel könnten bis zu 70 Meter hoch werden – und die Region mit Wasser versorgen.
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