Analyse zur VW-DieselaffäreDer Fehler hat System
Der gigantische Abgasbetrug bei VW-Dieselautos ist einer der grössten Skandale der deutschen Industriegeschichte. Dass es so weit kommen konnte, liegt auch an den rigiden Hierarchien im Unternehmen.
An die 100 Beschuldigte insgesamt, Millionen verseuchter Autos, betrogene Kunden und Händler, Milliardenstrafen – und ein kaum zu beziffernder Schaden für Umwelt und die Gesundheit vieler Menschen: Der gigantische Abgasbetrug bei VW-Dieselautos gehört zweifellos zu den grössten Skandalen der deutschen Industriegeschichte, die juristische Aufarbeitung wird lange dauern.
Sechs Jahre nachdem der Skandal bekannt wurde, ist es höchste Zeit, dass die Menschen erfahren, wie es so weit kommen konnte. Und selbst wenn Volkswagen ein ganz normales Unternehmen wäre, wäre es schon schwer genug herauszufinden, wer in diesem Riesenreich wann was wusste. Aber VW ist kein normaler Konzern, ist es nie gewesen. Das macht es nun so schwierig.
Viele sprechen nicht zufällig von einer Art «System», das von Wolfsburg aus ein weltumspannendes Reich mit 600’000 Menschen kontrolliert und in dem Millionen Autos produziert werden. Was dieses System über viele Jahre hin ausmachte: Starke Hierarchien und ein ganz auf den Geschäftsführer ausgerichtetes Führungsprinzip, das rigide unten und oben unterscheidet.
Es muss über diejenigen gesprochen werden, die als oberste Chefs die Verantwortung für das Unternehmen trugen und damit das System erst zu dem machten, was es war.
Auch deshalb darf es bei der juristischen Aufarbeitung, die an diesem Donnerstag mit einem Mammutprozess beginnt, nicht nur um die gehen, denen gewerbs- und bandenmässiger Betrug vorgeworfen wird. Um jene Ingenieure und Motorenschrauber also, die trickreiche Softwarelösungen entwickelt und diese dann in Dieselautos eingesetzt haben sollen, um damit Abgasmessungen zu manipulieren. Es muss über diejenigen gesprochen werden, die als oberste Chefs die Verantwortung für das Unternehmen trugen und damit das System erst zu dem machten, was es war. Allen voran: Martin Winterkorn, VW-Chef von 2007 bis 2015.
Leider ist der prominenteste Angeklagte nicht dabei, wenn seinen vier Ex-Kollegen jetzt in Braunschweig der Prozess gemacht wird. Er ist krank und nicht verhandlungsfähig. Dass er erst später und separat an der Reihe ist, lässt sich nicht verhindern. Allerdings hätte man sehr gern gesehen, wenn sich der Chef und seine Ingenieure jetzt im Gerichtssaal wiedergesehen hätten. Oben und unten, vereint vor dem Richter.
Der heute 74-jährige Winterkorn hat stets bestritten, vor September 2015 von den Manipulationen erfahren zu haben. Für jemanden, der in all den Jahren als pedantischer Kontrollfreak und Akribiker galt, der jede Schraube und jede Fuge kannte, ist das eine überraschende Aussage. Und für einen, der 17 Millionen Euro im Jahr verdiente, um VW zu führen, eine ernüchternde Erkenntnis: Jener Mann, der seine Ingenieure täglich anfeuerte, immer besser zu werden, immer profitabler, gern noch schneller – ausgerechnet der will von all dem nichts geahnt haben.
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