Was an der EM zu reden gabDer erste Schock, der letzte Held – das war die EM
Die EM ist vorbei, Italien ist Europameister. Wir schauen zurück auf einen Monat Fussball – das sind die grössten Momente dieses denkwürdigen Turniers.
Der erste Schuss, das erste Tor – Traumstart?
Sonntagabend. Wembley. EM-Final. Kurz nach 21 Uhr.
Englands Luke Shaw hat den Ball, hinten links, tief in der eigenen Platzhälfte. Shaw sieht Harry Kane. Pass.
Captain Kane nimmt den Ball an. Die Engländer befinden sich noch immer in der eigenen Platzhälfte. Aber nicht mehr lange.
Auf der rechten Seite sprintet Kieran Trippier los. Kane schaut. Kane spielt.
Trippier läuft. Und steht dann schon am italienischen Strafraum, rechte Seite. Er hebt den Kopf.
Auf der anderen Seite des italienischen Strafraums: befindet sich jetzt Luke Shaw. 70, 80 Meter ist der 26-Jährige mitgelaufen, steht jetzt völlig frei, winkt mit den Armen, will die Flanke haben, bekommt die Flanke, nimmt den Ball direkt, trifft.
1:0 für England. Erster Torschuss. 2. Spielminute. Traumstart. Oder?
Mario Gavranovic, Mister 100 Prozent
Einmal noch, vielleicht schon zum letzten Mal? Xhaka ist am Ball, alle rennen los, aber der Schweizer Captain wartet ab. Es läuft die 90. Minute im Achtelfinal gegen Frankreich, der Weltmeister führt mit 3:2. Xhaka wartet, weil Gavranovic startet. Seit einer Viertelstunde ist der Tessiner im Spiel, eben hat er wieder ein Abseitstor erzielt, schon das zweite nach dem vermeintlichen Siegtreffer gegen Wales. Jetzt braucht die Schweiz sein Tor, sonst ist für sie das Turnier vorbei. Gavranovic hat den Ball auf links, Kimpembe lässt er aussteigen, mit rechts schliesst er ab in die linke Ecke, 3:3, Verlängerung, die Schweiz im Hoch. Später hält Sommer gegen Mbappé, der grosse Favorit ist draussen, die Schweiz hat ihren Knock-out-Fluch besiegt. Und Gavranovic? Nach seinen zwei Abseitstoren weist die Statistik für ihn im ganzen Turnier einen einzigen regulären Abschluss aus. Trefferquote: 100 Prozent.
Eriksens Weg zurück ins Leben
Die Zeit steht still, aus Sekunden werden Minuten, aus Minuten eine Ewigkeit. Der Däne Christian Eriksen liegt im Spiel gegen Finnland am Boden, ohne Fremdeinwirkung. Sein Herz, das wird später klar, schlägt in diesem Moment in Kopenhagen nicht mehr. Geblieben ist dieses Bild, wie die Dänen, während die Retter um Eriksens Leben kämpfen, als Sichtschutz einen Kreis um ihren Kollegen bilden – mitgenommen, in Tränen, schockiert. Eriksen findet den Weg zurück ins Leben. Und die Dänen finden als verschworene Einheit den Weg bis in den Halbfinal. Eine Geschichte, die schrecklich beginnt, hat ein Happy End.
Leiden, Jubel und 15 Minuten Ruhm
Es dauert bloss Minuten, dann ist er weltberühmt. Im Internet ploppen die Memes schneller auf als Pilzli auf den jurassischen Weiden neben seinem Wohnort Rebeuvelier. Londons Bürgermeister Sadiq Khan adelt ihn auf Twitter als «Mann des Spiels». Er gibt Interviews hier und dort, wird im «Guardian» gezeichnet, bekommt den Flug nach St. Petersburg bezahlt und hat als «the_swiss_super_fan» auf Instagram mehr als 17’000 Follower. Luca Loutenbach ist der Mann, der mit Leidensmiene und Jubelgebrüll den Achtelfinal der Schweiz gegen Frankreich zusammenfasst und seine 15 Minuten Ruhm recht clever nutzt.
Eine Grätsche mit dem Wert eines Tors
«Vale un gol», sagen die Spanier, wenn einer heroisch verteidigt, eine Abwehraktion so viel wert hat wie ein Tor. Zehn Minuten vor Ende dieses Viertelfinals sieht es erst einmal nur nach «gol» aus, Marcos Llorente schiesst, elf Meter sind es bis zum Tor, vielleicht ist das die Chance, diesen hartnäckigen Yann Sommer doch noch einmal zu bezwingen.
Und dann springt Ricardo Rodriguez rein, mit letzter Kraft und dem Willen eines Bodyguards, dessen einzige Bestimmung es ist, dieses Tor zu schützen. Vale un gol. Rodriguez schüttelt mit dieser Grätsche alles davor Gewesene ab. Wen interessiert jetzt noch der verschossene Penalty gegen Frankreich, die Kritik, die Fragen, all das erlischt in diesem einen Moment. Und so steht der 28-Jährige sinnbildlich für den Schweizer Kampfgeist an diesem Turnier – und kurzzeitig auch für spanische Verzweiflung.
Der wunderliche Herr mit der Hand an der Nase
Ausgerechnet hier, ausgerechnet so. Seit 1966 hat Deutschland an Turnieren kein K.-o.-Spiel gegen England mehr verloren, damals war es der WM-Final im Wembley. Und am gleichen Ort endet an diesem 29. Juni 2021 nicht nur diese lange Serie, sondern auch eine prägende Ära im deutschen Fussball. 15 Jahre war Joachim Löw Bundestrainer, höchstens 10 hätten es sein sollen, monieren die Kritiker. Im Nachhinein ist man immer schlauer.
Im Nachhinein steht Löw nach dem 0:2 gegen England im Stadion, so viel schlauer ist er gerade noch nicht, hinter ihm mähen sie schon den Rasen fürs nächste Spiel, über ihm auf den Rängen singen englische Fans noch immer «Sweet Caroline». Der Abgang ist bitter. Löw war einmal der coolste Trainer der Welt, wie er in Berlin nach der Heimreise aus Brasilien mit dem WM-Pokal auf dem Rollfeld stand, Sonnenbrille, Fliegeruhr, das Hemd nicht ganz zugeknöpft. In den Tagen vor seinem Ende im Wembley war er nur noch ein wunderlicher Herr, der, die Hand an der Nase, von der Seitenlinie gedankenverloren aufs Spiel starrte.
Petkovics genussvoller Moment
Vor dem Spiel gegen die Türkei heisst die Frage: Wie lange kann sich Vladimir Petkovic als Nationalcoach noch halten, wenn er mit der Schweiz die Achtelfinals nicht erreicht? Zwei Wochen und zwei epische K.-o.-Spiele später geniesst er den Moment und drückt sich lächelnd vor einer eindeutigen Antwort, wie lange er jetzt noch Trainer bleiben will. So schnell kann die Stimmungslage im Fussball ändern.
Der frühe Turnier-Höhepunkt
Die EM dauert ein paar Tage, da wird klar, dass der schönste Treffer des Turniers gefallen ist. Zu frech ist er, zu aussergewöhnlich, zu genial. Der Tscheche Patrik Schick, mit fünf Treffern einer der Aufsteiger dieses Turniers, erzielt ihn. Der schottische Goalie ist weit aufgerückt, das sieht Schick. Wenige Meter nach der Mittellinie zieht er aus vollem Lauf direkt ab und verleiht dem Ball dabei so einen starken Drall, dass es ein Bild gibt, kurz nach der Schussabgabe aufgenommen, bei dessen Betrachtung man nie auf die Idee kommen könnte, dass daraus ein Tor entstehen kann.
Ein Eigentor für die Ewigkeit
Pedri hat eigentlich keinen Grund, aus über 40 Metern den Ball zu Unai Simon zurückzuspielen. Aber er tut es. Unai Simon im Tor Spaniens hat eigentlich keinen Grund zur Besorgnis, weit und breit kann er keinen Kroaten ausmachen. Er stellt lässig den rechten Fuss hin, um den Ball zu stoppen, etwas zu lässig halt, der Ball holpert am Fuss vorbei und ins Tor. Unai Simon macht vor, wie man es nicht macht. Pedri muss dafür büssen. In der Statistik taucht er als Schütze des Eigentors auf.
Corona? Delta? Alles egal
Am Anfang sind alle überrascht, wie viele Menschen in Ungarn in ein Stadion gelassen werden. Am Ende lässt England mehrmals über 60’000 Fans ins Wembley-Stadion. Keine Masken, niemand sitzt, alle herzen sich. Corona? Delta-Variante? Ist offenbar egal. Auch wenn die EU-Gesundheitsbehörde ECDC die EM einen Pandemietreiber nennt. In St. Petersburg haben sich rund 400 Finnen angesteckt und auch ein paar Schweizer. Über 1000 Schotten haben das Virus aus London nach Hause gebracht. Die ECDC kommt bislang auf 2500 Menschen aus 7 Ländern, die sich im Umfeld der EM angesteckt haben.
Wie der Nonno und sein Enkel
Die Schlacht wird hier ein Ende finden. 120 Minuten liegen hinter Italien und Spanien im Halbfinal, es muss mal wieder das ungeliebte Penaltyschiessen sein, das über alles richtet. Münzwurf vor Schiedsrichter Brych, Spaniens Captain Alba blickt grimmig. Italien kann anfangen und das erst noch vor seinen Fans. Alba protestiert, weist demonstrativ in die andere Richtung. Und Chiellini? «Mentiroso», ruft er, nennt seinen Amtskollegen einen Lügner, aber so liebevoll, wie noch nie jemand Lügner genannt worden ist. Chiellini schubst und lacht und umarmt, Alba ist nur noch verwirrt. Am Ende sind sie wie der Nonno und sein Enkel. Italien beginnt, verwandelt 4-mal, Spanien nur 2-mal. Weder Chiellini noch Alba schiessen einen Penalty. Aber der eine kann zufrieden grinsen.
Locatelli, was für ein Tor!
Marco Verratti ist der Star von Paris St-Germain, Manuel Locatelli im Alltag daheim in der Provinz von Sassuolo. Gegen die Schweiz spielt er nur, weil Verratti noch verletzt ist. Es ist angenehm, einen solchen Stellvertreter zu haben, Locatelli schlägt nach einer halben Stunde einen Pass auf die rechte Seite, der die Schärfe eines Schusses hat. Während Domenico Berardi an Ricardo Rodriguez vorbeizieht, als wäre der nicht da, hat Locatelli seinen Sprint aus der eigenen Platzhälfte heraus gestartet. Remo Freuler gibt es irgendwann auf, ihm folgen zu wollen. Nach 60 Metern ist Locatelli im Fünfmeterraum und am Ziel: Er nutzt Berardis Rückpass zum 1:0. So sieht ein Tor fürs Lehrbuch aus.
Pogbas Arroganz und Anmut
Bei Paul Pogba kommt alles zusammen: Anmut und Arroganz, Kraft und Technik, Genie und Wahnsinn. Manchmal taugt der Mittelfeldspieler zum Weltfussballer, dann wieder wirkt er wie eine lustlose Diva. Und dann gibt es Spiele, da zeigt er in wenigen Minuten seine ganze Mannigfaltigkeit – wie gegen die Schweiz. Da spielt Pogba einen Pass, volley und mit dem Aussenrist angeschnibbelt, ein Kunstwerk, wie auch sein Tor zum 3:1 eines ist. Geblieben ist aber Pogbas Jubel, sein aufreizend langes Tänzchen. Es steht für die Überheblichkeit der Franzosen, die als grosse Favoriten schon im Achtelfinal scheitern.
Arroganz à la française
Wer die Arroganz der Franzosen vor dem Achtelfinal gegen die Schweiz erleben will, muss L’Equipe TV schauen. Da sitzt Raymond Domenech, der frühere Nationaltrainer, und sagt: «Die Schweiz als Gegner ist ein Geschenk. Sie kann nur gewinnen, wenn die Franzosen vor dem Spiel im Hotellift stecken bleiben.» Gilbert Gress kennt Domenech bestens, er war einmal sein Trainer in Strassburg: «Er hat damals schon Blödsinn erzählt. Jetzt ist er Grossvater und schwätzt noch immer den gleichen Blödsinn.» Ein Journalist von «L’Equipe» hält übrigens das Niveau von Domenech: Weil sich die Schweizer vornehmen, gegen Frankreich mitspielen zu wollen, bezeichnet er sie als «Esel». Das Resultat ist bekannt.
Kampf um den Regenbogen
Am Anfang ist er am Oberarm des deutschen Goalies Manuel Neuer. Von da an bleibt das Zeichen der LGBTQI+-Community omnipräsent. Als Protest gegen ein ungarisches Anti-Homosexuellen-Gesetz soll die Münchner Arena als Regenbogen leuchten. Der europäische Verband Uefa verdribbelt sich irgendwo zwischen erlaubt, weil «positives Zeichen» (am Arm von Neuer), und verboten, weil «politisches Statement» (am Stadion). Werbung kommt im Stadion mit Regenbogen (München), Werbung mit Regenbogen im Stadion wird verboten (St. Petersburg). In Baku wird zwei dänischen Fans eine Regenbogenfahne von Sicherheitsleuten entrissen. Das nächste grosse Turnier findet 2022 in Katar statt. Spätestens dann wird feststehen, wo sich der Fussball positioniert.
Der Held der letzten Nacht
Sonntagabend. Wembley. EM-Final. Kurz vor Mitternacht.
1:1 nach 120 Minuten. Jetzt also: Penaltyschiessen.
Von den ersten neun Schützen treffen fünf ins Tor. 3:2 Italien. Wenn Bukayo Saka nicht trifft, ist es aus fürEngland.
Der junge Mann ist 19-jährig. Vier Schritte Anlauf. Griff an die Nase. Einmal noch tief durchatmen. Dann Anlauf. Dann Schuss.
2 Stunden, 51 Minuten, 36 Sekunden. Genau so lange ist es in diesem Moment her, seit Shaw England in Führung gebracht hat. 2. Spielminute. Traumstart. Oder?
Das frühe Tor macht die Engländer sehr passiv. Italien ist fast immer besser.
Und so wird aus dem ersten Helden des Abends, Luke Shaw, ein Verlierer.
Und so aus dem ersten Verlierer des Abends ein Held.
Als Saka den letzten Penalty schiesst, fliegt Italiens Goalie Gianluigi Donnarumma in die richtige Ecke.
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