Video empört Erdogan-Kritiker«Den Bürgern fehlt das Brot, aber der Tisch des Sultans ist gedeckt»
Ein Staatsbankett des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan löst hämische und harte Kommentare aus. Die Opposition wettert über die «Dekadenz» im Palast des Herrschers.
Zugegeben, das Ganze wirkt ein bisschen kleinlich. Da besucht der Regierungschef des Irak den Präsidenten der Türkei, man führt politische Gespräche, zwischen den Nachbarländern herrscht nicht immer eitel Sonnenschein.
Am Abend gibt es ein grosses Essen, die Chefs speisen an einem Tisch, rundherum greifen Delegationsmitglieder, Berater, Würdenträger zu. Ein Orchester spielt, ein Sänger singt: Was in Ankara im Präsidentenpalast geschah, vollzieht sich ähnlich bei Regierungstreffen in Berlin oder Brüssel, nur ohne arabisch-türkische Flötentöne.
«Die Regierung verurteilt ihr Volk zu Hunger und Armut, lebt aber im Palast wie zur Tulpenzeit.»
Politisches «business as usual» also – wäre da nicht Corona, wäre da nicht die soziale Not, wäre da nicht die türkische Opposition. Diese sucht händeringend nach Themen. Bisher schaffte sie es nicht, Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stellen, trotz Corona, trotz mieser Wirtschaftslage, trotz der Kriege, die er führt.
Da kam das Video vom Bankett, das in den sozialen Medien auftauchte, wie gerufen: vollgeladene Tische und eng aufeinandersitzende Menschen ohne Schutzmaske.
Auf Twitter ist die Rede von «Dekadenz» im Palast des Herrschers. Der Oppositionspolitiker Devrim Baris Celik von der CHP schrieb: «Für die Nation sind die Feste verboten, den Ladenbesitzern geht es erbärmlich, den Bürgern fehlt das Brot, aber der Tisch des Sultans ist gedeckt.» Und seine Parteifreundin Hatice Tugce Kaya von der CHP-Jugendorganisation meinte: «Die Regierung verurteilt ihr Volk zu Hunger und Armut, lebt aber im Palast wie zur Tulpenzeit.»
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Die Tulpenzeit, das muss Erdogan in den Ohren schmerzen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das Osmanische Reich hatte militärische Niederlagen einstecken müssen, herrschte im Istanbuler Sultanspalast eine barocke, kulturell an Europa orientierte Atmosphäre, sprich Verwestlichung. Nach ihrem jahrhundertelangen Siegeszug hinkte die Weltmacht nun den Kaisern und Königen Europas hinterher, der Sultan wollte das Land modernisieren.
Sprichwörtlicher Inbegriff der Ära, die von sozialer Not geprägt war, wurde die Tulpe: Die Blumen waren teuer und hip, Sultan Ahmed der Dritte liess sie in den Rabatten seines Palasts anpflanzen, exportierte sie in die Niederlande. Bei Abendgelagen krochen Schildkröten um die Tulpenbeete, auf ihren Panzern waren Kerzen befestigt, die Palastgärten wurden zum wogenden Lichtermeer.
Die Tulpenzeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts gilt heute als Zeit des Niedergangs.
Die Stimmung war prächtig, aber irgendwann war dann auch Schluss: 1730 gab es einen Janitscharen-Aufstand. Der Sultan musste abdanken, sein Grosswesir als oberster Zeremonienmeister wurde hingerichtet.
Auch wenn die Tulpenzeit eine Ära der Innovationsversuche war, gilt sie heute als Zeit des Niedergangs. Was zurück zu Erdogan führt. Erdogan regiert inzwischen fast 20 Jahre, hat aber nicht mehr wie früher eine Hand für die Wirtschaft: Da ist nicht nur Corona. Da sind auch eine krude Finanzpolitik und das volkswirtschaftlich fragwürdige Beharren auf dem Bau immer neuer Riesenflughäfen, Riesenmoscheen und Riesenbrücken über den Bosporus und die Dardanellen. Schliesslich facht Erdogan immer wieder neue internationale Konflikte an.
Da kam das Video den schwarmerregten Twitterern gerade recht. Einer schrieb sogar: «Die haben nicht einmal Angst vor Allah: Sie werden gehen, wie sie gekommen sind.»
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