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1200 Kilometer quer durch Indien
Das Mädchen, das seinen verletzten Vater nach Hause radelte

Bewies Muskelkraft und Durchhaltewillen: Jyoti und ihr Vater auf dem Weg von Delhi in den Bundesstaat Bihar.
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In all den Tagen der Mühsal dürfte Jyoti Kumari kaum daran gedacht haben, dass ihre Geschichte bald die indischen Zeitungen füllen oder sogar Ivanka Trump im fernen Amerika aufrütteln würde. Jyoti und ihr Vater waren ja nur zwei von mehreren Millionen Gestrandeten in Indien. Sie alle müssen seit März hart darum kämpfen, unter strikten Corona-Regeln und ohne Job zu überleben. Und es stand nicht gut um die 15-Jährige und ihren Vater, die nach Hause wollten, ins 1200 Kilometer von Delhi entfernte Dorf Sirhulli in Bihar, dem ärmsten aller indischen Bundesstaaten. Und nirgendwo ein Bus oder ein Zug in Sicht.

Jyotis Vater konnte kaum noch laufen. Mohan Paswan war verletzt, keine Chance, dass sich die beiden zu Fuss aufmachten wie die anderen, denen das Geld ausging. Vor dem Unfall hatte der Vater sein Geld als Fahrer einer Autorikscha in der Satellitenstadt Gurugram verdient, südwestlich von Delhi. Doch mit der Verletzung schaffte er es nicht mehr allein. Also rief er Jyoti zu sich, seine Tochter. Schon Monate zuvor hatte sie die Schule verlassen müssen, der Familie fehlte Geld für Bücher, ihr Vater schuftete sich in der Ferne ab, aber es reichte nicht.

Fremde gaben ihnen Essen

Jyoti reiste den weiten Weg von Bihar nach Gurugram, um sich um den verletzten Vater zu kümmern. Dann aber kam Corona, und alles wurde noch schlimmer. Rikschafahrer durften gar nicht mehr arbeiten, das Ersparte schmolz zusammen. Als ihr Vermieter immer heftiger drohte, sie hinauszuwerfen, ahnte Jyoti: Sie mussten nach Hause, dort gab es immerhin Freunde und Verwandte, auf deren Rückhalt sie zählen durften. Und so nahm das Mädchen die letzten Rupien, kaufte für umgerechnet 17 Franken ein gebrauchtes Velo. Jyoti im Sattel, der Vater auf dem Gepäckträger, eine Tasche auf dem Schoss. So ging es los, wie indische Zeitungen und TV-Sender berichteten, bei 30 bis 40 Grad im Schatten musste Jyoti in die Pedale treten, immer Richtung Osten.

Der Vater mochte nicht dran glauben: Mädchen, fragte er, wie soll das gehen? Das war ja kein Ausflug, sie mussten quer durch Indien. Sie schliefen an Tankstellen, sie waren hungrig. Fremde gaben ihnen zu essen, manchmal ernteten sie aber auch Spott am Wegesrand: Leute, die nichts ahnten von der Verletzung des Vaters, lachten sie aus. Ein Mädchen, das sich abkämpfte, ihren Vater durch die Gegend zu schaukeln? Wo gab es denn so was?

Nach zehn Tagen waren Jyoti und ihr Vater zu Hause.

Doch Jyoti liess sich nicht beirren, sie behielt ihr Ziel fest vor Augen: Papa nach Hause bringen, das hatte sie Mama versprochen. Um die Mutter zu erreichen, musste Jyoti unterwegs immer wieder ein Mobiltelefon ausleihen. Dann war sie damit beschäftigt, ihre Mama zu beruhigen. Sie würden das schon schaffen. Nur selten hatten Vater und Tochter das Glück, dass ein Lastwagen oder ein Traktor hielt, um sie ein Stück mitzunehmen. Die meiste Zeit seien sie geradelt, erzählen Jyoti und ihr Vater, nahezu hundert Kilometer pro Tag. Nach zehn Tagen war es geschafft.

Jetzt soll Jyoti Gesundheitsbotschafterin werden

Seit ihrer Heimkehr hat das Mädchen viele Interviews gegeben, die Medien nannten sie: «Löwenherz». Ihre Geschichte rührte schliesslich auch Ivanka Trump, auf Twitter lobte sie Jyotis Kraft, nannte sie eine Inspiration für viele Inder. Ein Kolumnist der Plattform «The Print» sah es etwas anders. Er fand, man dürfe den Fall Jyoti nicht romantisieren, vielmehr sollte er Indien beschämen. So viele Wanderarbeiter sind sich selbst überlassen, warten vergeblich auf versprochene Hilfe des Staates.

Jyoti bekommt nun viele Angebote: Der Radfahrverband lädt sie ein, mit dem Nationalteam zu trainieren. Ein Minister will sie zur «Gesundheitsbotschafterin» machen. Das fühle sich gut an, sagt Jyoti. Doch am meisten dürfte sie freuen, dass der Staat sie in einer Oberschule eingeschrieben hat. Jyoti, die ihren Vater nach Hause radelte, hat jetzt ein neues Ziel fest vor Augen: «Ich will wieder lernen und meine Prüfungen schaffen», sagt sie.