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Meinung

Analyse zum Rätsel um die Starautorin
Das Leben von Sibylle Berg – war es ganz anders?

War sie wirklich Taucherin in einer paramilitärischen DDR-Jugendgruppe? Die NZZ ist sich unsicher. Sibylle Berg 2019 in Basel, wo sie den Schweizer Buchpreis für den Roman «GRM. Brainfuck» erhielt.
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Was weiss man über Sibylle Berg? Fassbar ist ihr Opus: grosse Romane, kurze Geschichten, gesellschaftskritische Kolumnen, Reportagiges, Essays, Theaterstücke, Interviewsammlungen und alles zwischendrin und drumherum. Und zu diesen Texten kann man sich verhalten: Sie wurden in über dreissig Sprachen übersetzt, stürmten die Bestsellerlisten, beschäftigten die Feuilletons und Preisjurys. 2021 zum Beispiel wurde «Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden» zum «Stück des Jahres» erkoren, 2020 erhielt die Autorin den Schweizer Grand Prix Literatur, 2019 sowohl den Schweizer Buchpreis (für «GRM. Brainfuck») wie den Nestroy-Theaterpreis fürs beste Stück («Hass-Triptychon»).

Nun aber hat die NZZ sich darum bemüht, die «hard facts» ausserhalb von Sibylle Bergs literarischem Leben festzumachen, und musste realisieren: Das ist selbst im Zeitalter des gläsernen Menschen gar nicht mal leicht.

Zum einen hat die Schriftstellerin, die seit 1996 in Zürich über einen Wohnsitz und seit 2012 über die hiesige Staatsbürgerschaft verfügt, in etlichen Mediengesprächen manche Dinge offenbar nicht immer deckungsgleich erzählt, so die NZZ. Zum andern verhindert – vermutlich – der Datenschutz, dass der NZZ-Journalist bestimmte Details mit letzter Sicherheit erfahren kann. Etwa, ob der 2019 in Weimar verstorbene Musikprofessor Michael Berg Sibylle Bergs Vater war oder nicht. Auch das Porträtfoto des Hochschularchivs lässt da nicht wirklich Rückschlüsse zu.

Hat der prägende Autounfall, der entscheidender Anstoss zum Schreiben gewesen sein soll, je stattgefunden?

Vieles muss in dem NZZ-Artikel also im Vagen, Raunenden, Spekulativen bleiben, «Mutmassungen über Sibylle» sozusagen: über einen Menschen, in dessen Leben – so viel scheint unbestritten – es einige Brüche und viel Schweres gab. Der sich neu erfunden hat, immer wieder.

Legendäre Ausreise-Story 

Wo genau wird die Sache fluid? Laut NZZ ist schon das Geburtsjahr in Zweifel zu ziehen. In den meisten Publikationen, auch bei den Preisverleihungen heisst es zwar: geboren 1962 in der damaligen DDR, in Weimar. Aber es existieren, so NZZ, auch andere Angaben: Sie reichen von 1952 über 1966 bis 1968. Weitere Unklarheiten sind: Hat der prägende Autounfall in den Neunzigern, der mehrere diffizile Operationen zur Folge gehabt haben und entscheidender Anstoss zum Schreiben gewesen sein soll, je stattgefunden? Und wenn ja, war es ein BMW oder ein Golf? Und wann genau geschah das?

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Auch der Tod der Mutter wirft Fragen auf: Für den rapportierten Suizid der Mutter – sie soll in ihrer Weimarer Wohnung den Kopf in den Gasofen gesteckt haben, es sei zur grossen Explosion gekommen – hat die NZZ keine belastbaren Beweise gefunden. Und wo wuchs Sibylle Berg, die nach der Scheidung der Eltern zeitweise bei Pflegeeltern gelebt haben soll, auf? In der DDR oder doch hauptsächlich in Rumänien? Auf Bergs Website ist zu lesen: «lebte unter anderem bei einer Pflegefamilie in Konstanza».

DDR-Partei- und -Staatschef Erich Honecker am 6. Oktober 1989, kurz vor dem Mauerfall. Hat Sibylle Berg ihm geschrieben?

Sogar die legendäre Story rund um ihre Ausreise lässt Fragen offen. Hat Berg den Antrag dazu 1982 gestellt oder 1984? Hat sie ihn tatsächlich direkt an Erich Honecker adressiert, wie sie gelegentlich behauptete, und dafür Repressalien kassiert? Die NZZ hat in einem Berg-Interview von 2019 eine Passage entdeckt, in der die Autorin einräumt, sie habe über sich viel «Quatsch erzählt»; den Brief an Honecker etwa habe es nicht gegeben. Es spricht womöglich Bände, dass sie auf ihrer Website von 16 Romanen spricht und darunter auch andere Prosa sowie Gonzo-Journalistisches zu subsumieren scheint.

Anspielungen im Dokfilm

Bereits im 2015 erschienenen Dokfilm «Wer hat Angst vor Sibylle Berg?» pointiert die Autorin, wie die NZZ selbst zitiert, auf Fragen reagiere sie widerspenstig: «Ich lüg dann eh nur.» War sie wirklich Taucherin in einer paramilitärischen DDR-Jugendgruppe? Arbeitete sie in all den Nebenjobs, von denen sie schon berichtet hat? Mit einer aufwendigen Recherche könnte man einige dieser Fragen wahrscheinlich abschliessend beantworten, wenn wohl auch nicht alle. Doch ist es wichtig? 

Sibylle Berg ist keine gewählte Repräsentantin des amerikanischen Volkes wie George Santos, der seine Wählerinnen und Wähler – wie auch Businesspartner – mit seinen Unwahrheiten hinters Licht geführt hat. Sie ist eine Arbeiterin in Sachen Fiktion, diese ist ihr Produkt, welches die Menschen bewusst und in Scharen erwerben. Bezüglich ihres Privatlebens darf sie sich bedeckt halten, so wie das eine Menge Autorinnen und Autoren vor ihr taten.

Ein prominentes Exempel aus jüngster Zeit ist die italienische Romancière Elena Ferrante, mit deren geheimgehaltener Identität die Medien sich teils mehr auseinandersetzen als mit den Büchern. Und nicht einmal der Verleger von «Gullivers Reisen» kannte die wahre Identität des Verfassers (Jonathan Swift). Die viktorianischen Brontë-Schwestern schrieben unter Pseudonymen, und der amerikanische literarische Superstar Thomas Pynchon verweigert sich den Medien seit Jahrzehnten fast komplett.

Wenn es nicht die Wahrheit ist, so ist es gut gelogen.

Der Widerstand gegen eine «autobiografistische» Lesart mag besonders guttun in einer Zeit, in der vieles nur noch gemäss Identitätskriterien wahrgenommen wird und man bisweilen fordert, dass selbst Übersetzerinnen eine passende Ethnie aufweisen sollen. Sibylle Berg ihrerseits hat – vielleicht – statt der Verweigerung die Erfindung gewählt. Sie selbst verzichtete bisher gegenüber der NZZ und dieser Zeitung auf eine Erklärung.

Der allfällige spielerische Umgang mit den eigenen Erlebnissen könnte allerdings da problematisch sein, wo ein journalistischer Wahrheitsanspruch unterstellt werden darf. Die NZZ verweist diesbezüglich auf eine Reportage, die Sibylle Berg in Kambodscha für das «Zeit»-Magazin verfasste, und auf eine weitere für das Tamedia-Magazin «Facts», für das sie 1996 in Polen einen mutmasslichen Serienmörder besuchte. Packend geschriebene Texte, bereichert um bestechende O-Töne und Zufälle. Dass da eine Claas-Relotius-hafte Imaginationskraft mitgeschrieben hat, will der NZZ-Journalist nicht ausschliessen.

Als Schriftstellerin freilich muss Sibylle Berg anderen Massstäben gerecht werden, nach dem Motto «Und wenn es nicht die Wahrheit ist, so ist es gut gelogen»: Die Lesenden haben kein Anrecht auf ihre private Geschichte. Wenn Sibylle Berg auf ihrer Website mitteilt, dass sie nonbinär ist oder «u.a. Ozeanografie» studiert hat, werden wir annehmen, dass es sich auch so verhält. Aber wenn nicht: tant pis.