Ukrainische Stadt steht vor dem Fall«Das Leben in Mariupol ist unerträglich geworden, es ist wirklich furchtbar»
Der Bürgermeister der belagerten Stadt hat kaum noch Hoffnung. Putin hat derweil den Tschetschenenführer Kadyrow zur Unterstützung seiner Truppen nach Mariupol geschickt.
In der südukrainischen Hafenstadt Mariupol wird eine Zuspitzung der ohnehin bereits prekären Lage befürchtet, die Stadt steht offenbar kurz vor dem Fall. Russland hat zudem am Dienstag erneut angekündigt, die Angriffe auf Kiew und andere Gebiete zu reduzieren und sich auf die «Befreiung des Donbass» zu konzentrieren. Mariupol ist nach Donezk die zweitgrösste Stadt dieser Region und von strategischer Bedeutung, nicht nur wegen der Lage am Asowschen Meer, sondern auch für die Festlandverbindung von Russland und der Krim.
Der Regierung in Kiew macht die Lage des von russischen Truppen umzingelten Mariupol «grosse Sorgen», die humanitäre Situation sei «katastrophal». Die Eingeschlossenen kämpften täglich weiter «ums Überleben», sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Dienstag.
Mindestens 5000 Menschen sollen seit Kriegsbeginn schon getötet und bestattet worden sein. Aufgrund des anhaltenden Bombardements durch Russland habe es aber schon seit Tagen keine Beerdigungen mehr gegeben, die Zahl der Todesopfer wird daher auf «ungefähr 10’000» geschätzt.
Auf Twitter oder Telegram berichten Geflüchtete von Massengräbern, von toten russischen Soldaten auf den Strassen und prekären Zuständen. Eine Familie habe beinahe ihren Hund getötet, um zu überleben, bevor sie aus den Trümmern eines zerstörten Gebäudes gerettet wurde, erzählt eine Frau, welche die Flüchtenden empfangen hatte. In einem Video erzählen Menschen, die noch immer in Mariupol sind, wie sie von einem Tag auf den anderen ihr gutes Leben verloren haben, obdachlos wurden und um Nahrungsmittel kämpfen.
Mariupol war in den letzten Tagen immer wieder Schauplatz von erschütternden Nachrichten. In einem von Bomben zerstörten Theater starben wohl 300 Menschen, die dort Schutz gesucht hatten. Zuvor war eine Entbindungsklinik getroffen worden. Die Bilder von Schwangeren, die aus dem zerstörten Spital gerettet wurden, gingen um die Welt.
Der Bürgermeister der Stadt bestätigte diese prekäre Lage im ukrainischen Fernsehen. «Unseren Schätzungen zufolge halten sich noch etwa 160’000 Menschen in Mariupol auf. Die Stadt ist nicht mehr zum Leben geeignet, da es kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung und keine Kommunikation gibt», erklärte Vadym Boichenko. «Es ist wirklich furchtbar. Die Demütigung, die jeder Einwohner von Mariupol heute durch die russische Besatzung erfährt, lässt sich nicht in Worte fassen.»
Von den einst 450’000 Einwohnerinnen und Einwohnern der Hafenstadt sind etwa 140’000 schon vor der Belagerung geflohen, weiteren rund 140’000 gelang seither die Evakuierung. Auch stehen nach Angaben des Bürgermeisters 26 Reisebusse bereit, um Menschen aus Mariupol zu retten, es gebe aber derzeit keinen sicheren Korridor, um seine Leute abzuholen, sagte Boichenko. «Wir wären bereit, aber leider ist nicht mehr alles in unserer Macht, leider sind wir nun in der Hand dieser Besetzer.» Ob sich dies auf die Kontrolle der Stadt oder der Fluchtkorridore bezog, war nicht klar.
Boichenko hat alle Bewohnerinnen und Bewohner zur Flucht aufgerufen. Seinen Angaben zufolge sind 90 Prozent der Wohngebäude durch die russischen Attacken beschädigt worden. Drei Spitäler seien komplett zerstört, vier weitere teilweise. Zudem berichten die ukrainischen Behörden von Dutzenden getroffenen oder komplett zerstörten Schulen und Kindergärten. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Am Dienstag soll die Flucht aus Mariupol mit privaten Autos über Berdjansk bis nach Saporischschja möglich sein. Diese habe die Ukraine mit den russischen Truppen ausgehandelt, eine Bestätigung der Invasoren blieb zunächst aus.
Derweil ist der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow gemäss russischen Medienberichten nach Mariupol gereist. Der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin in den Rang eines Generalleutnants beförderte Kadyrow soll dort den Kampfgeist seiner Kämpfer steigern, wie der tschetschenische Minister Achmed Dudajew der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti sagte.
Der tschetschenische Machthaber soll zudem die Strategie für die «Befreiung» Mariupols anpassen. Kadyrow versprach auf dem Nachrichtendienst Telegram, die zerbombte Hafenstadt «in sehr kurzer Zeit vollständig zu befreien». Das ukrainische Aussenministerium bezeichnete dies seinerseits als «neue Phase des Terrors gegen Mariupol». Es sollen bereits 6000 Menschen in russische Lager verschleppt worden sein.
Auf Bildern des russischen Fernsehens war Tschetschenenführer Kadyrow in Mariupol zusammen mit dem russischen Generalleutnant Andrei Mordwitschew zu sehen. Das Foto warf Fragen auf, da Mordwitschew einer der Generäle ist, die nach Angaben der ukrainischen Behörden bei den Kämpfen getötet wurden. Die Identität des Russen konnte zwar bestätigt werden, nicht aber der Zeitpunkt der Aufnahme, diese könnte auch älter sein.
Amnesty prangert Kriegsverbrechen an
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International vergleicht das belagerte Mariupol mit der syrischen Stadt Aleppo, welche vom syrischen Präsidenten und der russischen Luftwaffe praktisch komplett zerstört wurde. Amnesty prangert dabei vermehrt «Kriegsverbrechen» an. «Was in der Ukraine geschieht, ist eine Wiederholung dessen, was wir in Syrien gesehen haben», sagte Generalsekretärin Agnes Callamard der Nachrichtenagentur AFP am Dienstag.
Bei einem Besuch vor Ort habe Amnesty dieselben Taktiken wie in Syrien und Tschetschenien gesehen. Russland setze Waffen ein, die nach internationalem Recht verboten seien, greife zivile Ziele an und verwandle Fluchtrouten in «Todesfallen».
Fehler gefunden?Jetzt melden.