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Notenbanken im Dilemma
«Das ist kein Inflationsproblem, wie wir es gewohnt sind»

Im Zentrum der weltweiten Geldpolitik: Agustín Carstens, General Manager der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. 
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Um ganze 6,2 Prozent ist die Inflation in den USA im November gewachsen – und damit so stark wie seit 1990 nicht mehr. Angestiegen sind die Preise auch in Europa und etwas weniger stark in der Schweiz.

Das Thema ist aber von weltweiter Bedeutung, weil sich damit die Frage stellt, ob die Notenbanken – allen voran jene der USA – bald die Zinsen erhöhen. Das hätte Folgen für das Zinsniveau weltweit.

Wie aber ticken die Notenbanker? Kaum jemand kann das besser beurteilen als Agustín Carstens. Nicht in erster Linie, weil er von 2010 bis 2017 Chef der Notenbank von Mexiko war und zuvor Finanzminister des Landes. Sondern weil Carstens die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) leitet.

Die BIZ gehört den Notenbanken, und an ihrem Sitz in Basel treffen sich ihre Chefinnen und Chefs regelmässig und debattieren die aktuellen Herausforderungen. Grund genug, sich mit Carstens über die aktuellen Fragen zur Teuerung und zur Weltwirtschaft zu unterhalten.

Zentraler Knotenpunkt für die Notenbanken der Welt: Der BIZ-Turm beim Basler Bahnhof. 

Gleich zu Beginn des Gesprächs macht er klar, dass es falsch sei, die aktuelle Lage mit der sogenannten Stagflation der 1970er-Jahre zu vergleichen, wie das oft getan wird. Wie heute die Energiepreise sind damals die Ölpreise sehr stark angestiegen. In der Folge gerieten viele Länder wie auch die Schweiz in eine schwere Rezession.

Eine neue Variante der Teuerung

Den Ursprung der aktuellen Probleme sieht Carstens in der Corona-Krise: «Es hat sehr grosse Verzerrungen in den Märkten gegeben, die durch die Pandemie und die politische Antwort darauf ausgelöst wurden. Wenn man viele Sektoren schliesst, kann man bei einer Wiederöffnung nicht annehmen, dass danach wieder alles glatt funktioniert.» Die Entwicklung bei den Preisen ist laut Carstens die Folge davon.

«Wir sehen eine starke Erholung mit vorübergehenden Preisanstiegen.»

Agustín Carstens, BIZ-Chef

Aber anders als in den 1970er-Jahren befinde sich die Weltwirtschaft nicht in einer Konjunkturkrise, denn an Nachfrage fehle es nicht: «Der Konsum ist relativ stark, und das gilt auch für den Welthandel. Wir sehen daher keine fundamentale Abschwächung», erklärt Carstens.

Das Gegenteil sei der Fall: «Wir sehen eine starke Erholung mit vorübergehenden Preisanstiegen. Aber das wird sich bald wieder korrigieren.»

Eine Folge der damaligen Erdölkrise: Verbot für Autofahrten an ausgewählten Sonntagen im Jahr 1973. 

Die Preissteigerungen würden vor allem durch Probleme beim Angebot der Unternehmen verursacht, erklärt der BIZ-Chef. Damit bezieht er sich auf die durch die Corona-Krise ausgelösten Verzerrungen an den Märkten und auf die gestiegenen Kosten angesichts von Flaschenhälsen in den internationalen Lieferketten.

«Diese Probleme haben nur in einem beschränkten Ausmass Einfluss auf die Inflation», sagt Carstens. Ein gestiegenes Preisniveau sei nicht mit Inflation zu verwechseln. Denn von Inflation könne man nur sprechen, wenn die Preise andauernd weiter stiegen. «Das wäre nur der Fall, wenn die Preissteigerungen die Erwartungen beeinflussten. Dann kann es zu Zweitrundeneffekten etwa über Löhne oder über die Preissetzung verschiedener Firmen kommen.» Eine solche Entwicklung sei bisher nicht in Sicht, so Carstens.

Dass in einigen Ländern, wie vor allem in den USA, Löhne bereits zulegen, hat laut Carstens nichts mit einer Anpassung an eine höhere Inflation zu tun: «Einige Beschäftigungen werden sehr gut bezahlt, andere dagegen nicht, denn das Niveau an Fähigkeiten, das nachgefragt wird, ist sehr unterschiedlich. Das ist aber kein Inflationsproblem, wie wir es gewohnt sind», gibt der BIZ-Chef zu bedenken.

Die Schwierigkeit, Preissignale richtig zu deuten

Und was sagt er dazu, dass die Notenbanken ihre Einschätzungen zur Inflation im laufenden Jahr immer wieder nach oben korrigieren mussten? Können sie ihren Modellen überhaupt noch trauen? «Keine Notenbank folgt automatisch einem ökonomischen Modell», erklärt Carstens. Neben mehreren Modellen würden auch Marktinformationen genutzt, Umfragen und weitere Methoden.

Allerdings gesteht er ein, dass die Beurteilung der Lage angesichts vieler Einflussfaktoren schwieriger sei: «Wir beobachten viele Preissignale, ohne zu wissen, was sie genau bedeuten. Denn sehr viele starke Kräfte wirken aktuell gleichzeitig auf die Wirtschaft ein: die Pandemie selbst, die wirtschaftspolitische Antwort darauf, der technologische Wandel und die Politik, um dem Klimawandel zu begegnen.»

Angesichts einer verhältnismässig geringen Teuerung steht er weniger unter Druck, die Geldversorgung einzuschränken: Nationalbank-Präsident Thomas Jordan.

Bleibt die Frage, ob die Notenbanken überhaupt wagen würden, den Geldhahn wenn nötig wieder zuzudrehen. Immerhin würden höhere Zinsen angesichts der zuletzt stark gestiegenen Staatsverschuldung weltweit die Kosten dafür massiv erhöhen.

Erneut gibt sich Carstens gelassen: «Es ist den Notenbankern sehr wichtig, dass es zu keiner fiskalischen Dominanz kommen kann. Die Regierungen müssen selber einen Weg finden, um mit den höheren Kosten der Verschuldung umzugehen.»

«Wenn es höhere Zinsen braucht, werden die Zentralbanken die Zinsen erhöhen.»

Agustín Carstens, BIZ-Chef

Der BIZ-Chef lässt keinen Zweifel: «Wenn es höhere Zinsen braucht, um die Inflation tief zu halten, werden die Zentralbanken die Zinsen erhöhen, das ist ihr Mandat.» Und das sei auch im Interesse der Regierungen: «Wäre die Inflation in der Vergangenheit nicht besiegt worden und hätten die Notenbanken nicht ihre aktuelle Glaubwürdigkeit erworben, wäre es ihnen jüngst nicht möglich gewesen, eine derart aggressive Geldpolitik zur Unterstützung der Wirtschaft umzusetzen», sagt Carstens.

Das Dilemma der Notenbanken: Erhöhen sie die Zinsen, drohen Aktien- und Immobilienmärkte einzubrechen. Händler an der Deutschen Börse während der Finanzkrise von 2008.

Und was ist mit den Folgen auf den Kapital- und Immobilienmärkten? Sie alle wurden durch die Tiefstzinsen seit Jahren befeuert. Droht hier kein gefährlicher Einbruch? Carstens verweist auf die sogenannten «makroprudenziellen Massnahmen», die Notenbanken überall – auch in der Schweiz – ergriffen hätten. Dazu zählt etwa, die Verschuldung für den Kauf von Immobilien und anderen Anlagen zu beschränken.

Warnung vor der falschen Medizin

Es sei «sehr wichtig, dass die Notenbanken signalisiert haben, dass die Zinsen irgendwann wieder steigen werden». Jedenfalls sei eine Überhitzung der Anlagemärkte keine Sorge, die alle anderen übertreffe, erklärt Agustín Carstens. Er betont, dass nicht nur eine zu späte, sondern auch eine zu frühe Einschränkung der Geldversorgung mit Gefahren verbunden ist: «Dann könnte die Erholung enden», warnt der BIZ-Chef, was auch zu finanzieller Instabilität führen könne.

Auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen sei es deshalb wichtig, dass die Notenbanken geduldig blieben, bis sie sehr starke Hinweise darauf hätten, dass es wirklich ein Inflationsproblem gebe. «Es wäre nicht angemessen, eine Abschwächung der Wirtschaft zu riskieren, um einen Anstieg der Preise zu verhindern, der durch Angebotsprobleme verursacht wird. Wir müssen uns sehr sicher sein, dass die Medizin, die wir anwenden, auch die ist, die das Problem löst», fasst der BIZ-Chef zusammen.