Gleichstellung in der Schweiz«Das Gesetz zur Lohnanalyse hat leider noch keine Auswirkungen»
Frauen verdienen 18 Prozent weniger als Männer, knapp die Hälfte der Unterschiede ist unerklärt: Was die neue Auswertung des Bundesamtes für Statistik zeigt – und warum sie umstritten ist.
Nadine Püntener will nicht unter ihrem richtigen Namen reden. Darüber, dass sie als Juristin 3000 Franken weniger im Jahr verdient als ihr Arbeitskollege – der jünger ist, geringere Berufserfahrung vorweisen kann, weniger lang am gleichen Ort arbeitet und deshalb auch die einfacheren Fälle übernimmt. «Es gibt keinen Unterschied zwischen uns – ausser, dass ich eine Frau bin. Ich erlebe den klassischen Fall von Lohndiskriminierung», sagt sie.
Frauen wie Nadine Püntener kennt Claudine Esseiva viele. Sie äusserten sich nicht gern über erfahrene Lohnungleichheit, sagt die Berner FDP-Grossrätin und Co-Präsidentin vom Verband Business and Professional Women (BPW): «Es ist schwierig für Frauen, sich zu erkennen zu geben, weil sie die mindere Wertschätzung als Schwäche auslegen.»
Lohnunterschied um 1 Prozent verringert
Dass es immer noch Frauen gibt, die weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, zeigen auch Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) zu Lohndifferenzen. Gemessen an den Durchschnittslöhnen, verdienten die Frauen 2020 18 Prozent weniger als Männer, wie das BFS kürzlich mitteilte – ein Verdienstgefälle, das jenes in der EU übersteigt. Im Jahr 2018 waren es 19 Prozent. Damit habe sich der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern um 1 Prozent verringert.
Ein Grund zu Freude? – «Nein, die Zahlen sind eher ernüchternd», sagt Claudine Esseiva. Nur im öffentlichen Sektor sei der Unterschied gesunken (2018: 18 Prozent, 2020: 15 Prozent): «Im privaten Sektor blieben sie stabil. Das zeigt, dass das Gesetz zur Lohnanalyse leider noch keine Auswirkungen auf die Löhne hat.»
Seit Sommer 2020 sind Arbeitgeber ab 100 Mitarbeitenden nämlich verpflichtet, eine betriebliche Lohnanalyse durchzuführen. Die erste Analyse war bis Mitte 2021 durchzuführen.
Unerklärter Anteil variiert je nach Branche
Wie kommt es zu den Unterschieden? Teilweise lassen sie sich statistisch mit persönlichen Merkmalen der Arbeitnehmenden wie Ausbildung, Dienstjahre oder Führungsfunktionen erklären. Allerdings nicht alle: Rund die Hälfte der Lohnunterschiede bleibt laut BFS unerklärt. Das könnte auf Diskriminierung hindeuten. Eine Rolle spielt aber auch, dass das Modell nur wenige Kriterien kennt.
Der Anteil der unerklärten Differenzen zwischen den Geschlechtern ist sogar gestiegen – von 45,4 Prozent 2018 auf 47,8 Prozent im Jahr 2020. Dabei variiere er je nach Wirtschaftszweig stark, heisst es: «Im Gastgewerbe entsprach der unerklärte Anteil beispielsweise im Durchschnitt 255 Franken pro Monat. Im Detailhandel waren es monatlich 628 Franken, in der Maschinenindustrie 913 Franken und im Kredit- und Versicherungsgewerbe 1472 Franken.»
Kritik an der BFS-Analyse
Bei den Banken verdienen Frauen demnach im Schnitt 1472 Franken weniger als Männer, ohne dass dafür ein struktureller Grund auszumachen wäre. Claudine Esseiva vom BPW findet das schlimm: «Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet in der stark männlich geprägten Branche der Banken und Versicherungen der Unterschied so gross ist. Mit der Lohngleichheit sind wir noch nicht weit gekommen.»
Was aber sagen die Banken zu dem hohen unerklärten Anteil in der Branche? Der Arbeitgeberverband Banken Schweiz stellt die BFS-Daten grundsätzlich infrage: Die Angaben in Franken-Beträgen seien unseriös, moniert Geschäftsführer Balz Stückelberger. Zumal das Lohnniveau im Detailhandel viel tiefer liege als in der Finanzbranche.
Tatsächlich: Betrachtet man die Prozentsätze – in der Pressemeldung nicht explizit publiziert –, ergibt sich ein anderes Bild: Dann sind die grössten unerklärbaren Teile der Unterschiede im Verkehr zu finden. Dort lassen sich über 80 Prozent der Unterschiede nicht erklären. Im Detailhandel sind es 57 Prozent und bei den Banken und Versicherungen rund ein gutes Drittel.
Stückelberger kritisiert zudem, dass der Bund weiterhin Lohnstatistiken publiziere, obschon die Unternehmen neu zu Lohnanalysen verpflichtet seien. Diese fielen genauer aus. Die bisher vom Verband erfassten 44 Banken weisen demnach im Schnitt eine unerklärbare Lohndifferenz von 4,2 Prozent auf. «Das ist immer noch zu viel, aber wir arbeiten daran», sagt Stückelberger.
Auch der Schweizerische Arbeitgeberverband kritisiert in einer Stellungnahme die Methode der BFS-Statistiker als ungenau. Die neu eingeführten Lohngleichheitsanalysen auf Firmenebene seien «viel wichtiger». Die ersten publizierten Ergebnisse zeigten bereits ein deutlich positiveres Bild.
Das kritisierte Bundesamt für Statistik hält dagegen: «Die Daten aus der Lohnstrukturerhebung und ihre Ergebnisse gelten regelmässig als Referenzzahlen für die Lohnpolitik der Branchen in der Schweiz und werden vom Arbeitgeberverband, den Gewerkschaften und dem Bund benutzt.» Bei der Analyse handle es sich «um eine wissenschaftlich anerkannte und bewährte Methode».
Säumige Firmen kommen an den Pranger
Loran Lampart von der Aargauer Beratungsfirma Comp-on bestätigt das. Er sagt aber auch: «Die Daten des Bundes sind grossflächig über die ganze Schweiz aggregiert berechnet, aber Analysen auf Firmenebene sind daher genauer.» Comp-on hat laut seinen Angaben bisher in rund 220 Unternehmen Lohnanalysen durchgeführt.
Über alle untersuchten Firmen hinweg hätten sie eine durchschnittliche, unerklärbare Lohndifferenz von 3,7 Prozent zuungunsten der Frauen evaluiert. Die Ergebnisse seien unterschiedlich; bei der Hälfte der Firmen bestehe keinerlei geschlechtsspezifische Lohndifferenz, bei einem Viertel sei die Lohngleichheit innerhalb der statistischen Toleranz hingegen nur knapp gewahrt worden, und rund 5 Prozent hielten die betriebliche Lohngleichheit nicht ein.
Derweil ist für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund klar: «Die Benachteiligung der Frauen hält sich hartnäckig», schreibt er in einer Stellungnahme. Und Travailsuisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, fordert die Unternehmen auf, sich auf der Plattform Respect8-3.ch zu registrieren und damit die Durchführung der Lohnanalyse zu bestätigen. Im Sommer 2023 würden dort jene Unternehmen genannt, die ihrer Kontrollpflicht nicht nachgekommen seien.
Auch Frauen sind gefordert
Allerdings sind auch die Frauen selbst gefordert. Viele seien es nicht gewohnt, sich mit dem Thema Finanzen auseinanderzusetzen, sagt Helena Trachsel von der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich: «Und sie müssen lernen, sich in Lohnverhandlungen besser zu verkaufen.»
Aber auch die Unternehmen sieht sie in der Verantwortung: «Vorgesetzte und Personalbeauftragte haben die Pflicht, von der Rekrutierung, Weiterbildung über die Beförderung für faire Löhne zu sorgen und Mitarbeitende transparent über das Salärsystem und die Lohneinreihung zu informieren.»
Nadine Püntener indes treibt die Frage um, ob sie überhaupt gegen die Lohndiskriminierung vorgehen soll. Und wie. Ihr Vorgesetzter sei kein Freund von Gleichstellungsthemen: «Wenn ich meinen Chef direkt mit der Lohnungleichheit konfrontiere, riskiere ich meine Karriere. Andrerseits sollten wir Frauen uns gegen Lohnungleichheit wehren.»
Korrektur (28.11.2022, 12.30 Uhr): In einer früheren Version dieses Artikels wurde Claudine Esseiva als FDP-Stadträtin bezeichnet. Korrekt ist FDP-Grossrätin.
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