Neutralitätspapier zurückgewiesen Cassis läuft mit seinem Prestigeprojekt im Bundesrat auf
Es hätte der grosse Wurf des Aussenministers werden sollen. Doch nun sagt die Gesamtregierung Nein zu seiner Neudefinition des Neutralitätsbegriffs.

Monatelang brüteten Experten im Aussendepartement und in anderen Teilen der Bundesverwaltung über einem neuen Neutralitätsbericht. Im Mai präsentierte Aussenminister Ignazio Cassis, in diesem Jahr auch Bundespräsident, mit dem Begriff der «kooperativen Neutralität» gar eine Wortschöpfung. Sie sorgte für breites Aufsehen und kontroverse Diskussionen. Schliesslich nahm eine hochkarätige Arbeitsgruppe aus externen Expertinnen und Experten ihre Arbeit auf. Parallel beugte sich auch der Bundesrat an einer Klausur und zuletzt in zwei Sitzungen über die Thematik. Viel Arbeit für wenig Ertrag, denn der Bundesrat hat heute entschieden, die Übung abzubrechen.
Dies steht zwar nicht direkt so in einer eher dürren Medienmitteilung, welche die Bundeskanzlei nach der Bundesratssitzung vom Mittwoch verschickt hat. Dort heisst es, dass die Landesregierung erneut eine Aussprache durchgeführt habe zur Neutralität, die weiterhin «dauernd und bewaffnet» sein solle. Wörtlich heisst es weiter: «Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Neutralitätspolitik, wie sie seit dem Neutralitätsbericht vom 29. November 1993 definiert und praktiziert wurde, ihre Gültigkeit behält.»
Mit anderen Worten: Der Bundesrat will keine Neudefinition und -ausrichtung. Damit desavouiert er den Bundespräsidenten, der nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine den grossen aussenpolitischen Wurf wagte.
Weiter wie bisher
Der Krieg mitten in Europa hatte in der Schweiz die Neutralitätsdiskussion angeheizt – weil sich plötzlich Fragen von einiger Tragweite stellten: Das neutrale Land übernahm die EU-Sanktionen gegen Russland (und war damit für die SVP und für Russland nicht mehr neutral). Europäische Staaten baten in Bern um Erlaubnis, schweizerische Waffen an die ukrainische Armee weiterzugeben. Nato-Staaten wollten Flugzeuge über das Mittelland und die Alpen fliegen lassen (was sie ebenfalls nicht durften). Und zudem wurden Forderungen laut, die Schweiz solle sich dem westlichen Verteidigungsbündnis annähern.
Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats gab mit einem Postulat formell einen Auftrag für einen neuen Neutralitätsbericht. Das Aussendepartement wollte «im Sommer» liefern. Doch der Bundesrat machte bei dem Fahrplan nicht mit. In der Sitzung vom 31. August und nun in seiner erneuten Sitzung vom Mittwoch bremste er Cassis aus.
In der Medienmitteilung steht zwar, der Bericht zur Erfüllung des Postulats werde «angepasst» und «noch diesen Herbst verabschiedet». Doch dürfte dann vom ursprünglichen Vorhaben und von der «kooperativen Neutralität» kaum noch etwas übrig bleiben. Die Antworten auf die drängenden weltpolitischen Fragen wird Bern weiterhin im Neutralitätskonzept der früheren SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey suchen müssen. Dieses baut auf dem letzten Neutralitätsbericht aus dem Jahr 1993 auf. «Aktive Neutralität» nannte die Genferin ihr Konzept. Begriff und Idee brachte Micheline Calmy-Rey in Umlauf, ohne dafür Arbeitsgruppen eingesetzt und Konsultationen durchgeführt zu haben. Vor allem die SVP kritisierte die SP-Bundesrätin damals für ihren Alleingang.
So lief Cassis im Bundesrat auf
Ignazio Cassis hatte allein schon aufgrund der parteipolitischen Zusammensetzung seines Kollegiums einen schweren Stand. Es ist davon auszugehen, dass die beiden SP-Bundesräte Simonetta Sommaruga und Alain Berset am Mittwoch im Bundesrat keinen Anlass sahen, von der Konzeption Calmy-Reys abzuweichen. Auch die SP, die am Dienstag ihr neues Neutralitätspapier vorstellte, verwendete durchgehend den Begriff der «aktiven Neutralität» – wohl in Absprache mit ihren Bundesräten.

Ebenfalls ist davon auszugehen, dass die beiden SVP-Bundesräte Ueli Maurer und Guy Parmelin nichts von einer «kooperativen Neutralität» à la Cassis wissen wollten. Ihre Partei hat eine Neutralitätsinitiative lanciert, damit sich die Schweiz strikt aus internationalen Händeln heraushält. Von einer «Je-nach-Fall-Neutralität» will sie nichts wissen. Damit war bereits eine Mehrheit im Bundesrat gegen Cassis und das Schicksal des grossen, neuen Kooperationsansatzes besiegelt.
Sogar im Aussendepartement beobachteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Cassis’ Neutralitätsdebatte kritisch, weil sie den Moment aus verschiedenen Gründen für ungünstig erachteten. Ein Ende des Ukraine-Kriegs ist nicht absehbar, zudem wird die Schweiz ab Oktober als Beobachterin im Sicherheitsrat sitzen und ab Januar dann als vollwertiges Mitglied im Rat mitwirken. Das sei nicht der Moment, um die Schweizer Neutralität zu reformieren, auch wenn sich an der Rolle der Schweiz letztlich nichts ändere, heisst es.
Der Aussenminister hatte mit seiner «kooperativen Neutralität» die Konzeption seiner Vorvorgängerin Calmy-Rey weiterentwickeln wollen. Sein Vorschlag hätte der Schweiz «einen grösseren Handlungsspielraum zur aussenpolitischen Positionierung (…) sowie mehr Flexibilität» bringen sollen. Damit gemeint war unter anderem eine weitere Annäherung an die Nato – wie sie auch Cassis’ FDP fordert. Im Papier, das nun Makulatur ist, hiess es dazu: «Insbesondere erlaubt die kooperative Neutralität eine engere Zusammenarbeit mit der Nato und der EU.»
Mit einer Änderung des Kriegsmaterialgesetzes, die Cassis in diesem Zusammenhang ebenfalls vorschlug, hätte Drittstaaten die Wiederausfuhr von Waffen mit Herkunft Schweiz in Konfliktgebiete ermöglicht werden sollen. Hier war massive Kritik aus europäischen Staaten für Cassis Anlass zu einer Kursänderung, weil die Schweiz in der jüngeren Vergangenheit die Weitergabe von Waffen und Militärfahrzeugen, die in der Schweiz hergestellt wurden, in die Ukraine nicht bewilligte.
Mit Cassis’ Änderungsvorschlag hätte beispielsweise Dänemark, respektive eine dänische Privatfirma, die im Besitz von 22 Mowag-Piranhas war, die Fahrzeuge in die Ukraine verkaufen dürfen. Weil aber eine rechtsgültige Erklärung der Käuferschaft vorlag, dass diese Fahrzeuge nicht an andere Staaten verkauft werden dürfen, kamen die Piranhas mit dem heute geltenden Gesetz nicht im Ukraine-Krieg an.
Die Praxis dürfte auch in diesem Punkt zumindest vorläufig so bleiben wie bisher.
Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), relativiert die Tragweite des Entscheids. Zala, der als Mitglied der externen Expertengruppen den Neutralitätsbericht kennt, sagt: «In der Schweizer Geschichte war und ist die Handhabung der Neutralität keine rechtliche, sondern eine genuin politische Frage. Der Bundesrat entscheidet stets selbst und von neuem, wie er die Neutralität auslegt. Daran würde auch der Bericht mit seinen Idealtypen von Neutralität nichts ändern.»
SVP-Nationalrat Roland Büchel hält es für grundsätzlich falsch, den Neutralitätsbegriff mit einschränkenden Adjektiven zu versehen. Insofern ist es Büchel auch egal, wenn man von «aktiver» oder «kooperativer» Neutralität spricht. Er sagt: «Wenn wir unsere Neutralität nicht mit einschränkenden Adjektiven beladen, gilt sie umfassend, immerwährend und bewaffnet. Das sind die bewährten Adjektive.» Ob Cassis desavouiert werde oder nicht, spiele vor diesem Hintergrund gar keine Rolle, so Büchel, denn es gehe ohnehin «um mehr, nämlich um das Wohl unseres Landes».
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