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Abstimmung zur BVG-Reform
Wie der Gewerk­schafts­bund zur Macht­maschine wurde

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Wie sehen Menschen vor dem Moment des Gewinnens aus, wenn sie wissen, dass sie gewinnen werden? Sehr gelassen, fast schon überschwänglich gelassen.

Es ist Sonntag, kurz vor 12 Uhr, im Kulturhaus Progr in Bern stehen Gewerkschafterinnen und linke Politiker vor einer Grossleinwand. Sie warten auf die ersten Resultate zur BVG-Vorlage. Und man muss kein studierter Gesichterleser sein, um zu sehen, wie viel Vorfreude in den Blicken liegt.

Ein Mann aber ist nervös. Obwohl sämtliche Umfragen der vergangenen Wochen auf einen klaren Sieg hindeuten. Daniel Lampart ist Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und hat die ganze Woche schlecht geschlafen. Komisch sei der Abstimmungskampf verlaufen, sagt er. So emotional, so vergiftet. Das habe ihn derart stark verunsichert, dass er den Prognosen nicht traue.

Abstimmung wird verfolgt aus dem im Progr in Bern. 22.09.24

Hodel, Lampart, Maillard, Medici: Warum die Machtmaschine SGB Abstimmung um Abstimmung gewinnt

Dann trifft die erste Hochrechnung ein. Eine klare Mehrheit lehnt die BVG-Reform ab. Jubel bricht aus, ein glückseliger Taumel erfasst den Saal. Lampart reckt die Faust, neben ihm klatscht SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard in die Hände. Manche sagen, die beiden seien das Hirn (Lampart) und das Herz (Maillard) des SGB, auf jeden Fall waren sie zwei Gesichter der Nein-Kampagne.

«Das Resultat ist krass», sagt Lampart. Und wiederholt es sogleich noch einmal, diesmal flüsternd. «Es ist wirklich krass.» Am Ende stimmen 67 Prozent der Bevölkerung Nein. Selbst bürgerliche Orte wie Bünzen AG (75 Prozent) oder Oberiberg SZ (70 Prozent) sind dagegen.

Es ist ein Triumph für die Gewerkschaften und ein Knüppel zwischen die Beine der Bürgerlichen. «Das ist ein klares Zeichen, dass die Menschen keine Rentenkürzungen mehr wollen», sagt Lampart.

Abstimmung wird verfolgt aus dem im Progr in Bern. 22.09.24

Hodel, Lampart, Maillard, Medici: Warum die Machtmaschine SGB Abstimmung um Abstimmung gewinnt

Abstimmungskampf zur BVG-Reform war einzigartig

Die Verkündung des Resultats ist der Schlusspunkt eines einzigartigen Abstimmungskampfs. Es ging darum, ob der Umwandlungssatz in der zweiten Säule auf 6 Prozent gesenkt wird und ob Geringverdienende ebenfalls Einlass in die berufliche Vorsorge haben sollen. Allerdings diskutierte man dann nicht nur über handelsübliche Fragen wie: Was bringt die Vorlage? Und wer profitiert? Sondern auch: Welche Zahlen stimmen?

In die bereits sehr komplexe Vorlage mischten sich Behauptungen und Falschaussagen. Die Folge: verwirrte Menschen. Und man darf sagen: Der Gewerkschaftsbund nutzte das ziemlich geschickt aus, indem er die Verwirrung aktiv bewirtschaftete.

Lampart und Maillard trugen dazu bei, genauso wie die Juristin Gabriela Medici (lesen Sie hier das Porträt über Medici) und Urban Hodel, die eher im Hintergrund wirken. Die vier haben in den vergangenen Jahren aus dem SGB eine effiziente Kampagnenmaschine gemacht. Das zeigte sich bei der 13. AHV-Rente im Frühling, das zeigte sich auch jetzt beim erfolgreichen Referendum zur BVG-Reform.

Hodel leistete dazu einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Man bekommt eine Ahnung davon, wenn man sieht, wie ihm im Berner Progr immer wieder Leute auf die Schultern klopfen. Auf dem Papier ist er Co-Kommunikationschef des SGB. In der Realität führte der 38-Jährige die Kampagne und kreierte den Slogan («Mehr bezahlen für weniger Rente»).

Abstimmung wird verfolgt aus dem im Progr in Bern. 22.09.24

Hodel, Lampart, Maillard, Medici: Warum die Machtmaschine SGB Abstimmung um Abstimmung gewinnt

Hodel hat einen aussergewöhnlichen Lebenslauf. Er entspringt einer Architektenfamilie, lernte Zimmermann, studierte daraufhin Wirtschaft und führte eine Zeit lang die Pensionskasse PK-Netz. Er beriet Coiffeure, gab Pensionskassenkurse und kennt den Vorsorgeausweis nicht nur vom flüchtigen Blick am Jahresende: «Pensionskassen sind meine Leidenschaft», sagt er.

Arbeitgeberpräsident war noch lange zuversichtlich

In einem sperrigen Thema war Hodel Experte und merkte ziemlich schnell, welche Knöpfe er drücken musste. «Die komplexe Thematik herunterbrechen ist mein Spezialgebiet.» In der Sprache der Politik heisst das vor allem eines: emotionalisieren. Und diese Emotionalisierung stiess den Gegnern sauer auf.

Zum Beispiel dem Arbeitgeberpräsidenten Severin Moser. Dieser wurde vor Monaten an einem Anlass gefragt, was denn realistischer sei: dass seine Tochter Angelica im Stabhochsprung an Olympia die Goldmedaille hole oder dass eine BVG-Reform durchkomme. Der ehemalige Spitzensportler und Zehnkämpfer sagte: die Goldmedaille. Und jetzt, nach den Olympischen Spielen in Paris (4. Rang für Angelica Moser) und dem Nein zur BVG-Reform (67 Prozent Ablehnung) kann man sagen, dass Moser recht hatte.

Severin Moser, Direktor Schweizer Arbeitgeberverband, posiert fuer ein Portrait am Dienstag, 29. August 2023 in einem Sitzungszummer des Arbeitgeberverbands in Zuerich. (KEYSTONE/Christian Beutler)

Der Arbeitgeberpräsident wusste, dass es schwer würde. Trotzdem war er während des Abstimmungskampfes ziemlich lange zuversichtlich. «Für die Mehrheit der Bevölkerung hätte sich mit der Vorlage nichts geändert. Arithmetisch hätten wir gewinnen müssen», sagt er.

Dass es nicht so weit kam, begründet er mit der Kampagne der Gewerkschaften. «Sie hat fast schon amerikanische Züge angenommen. Man versuchte, Leute zu verunsichern, es gab kaum eine inhaltliche Diskussion.» Er spricht von irreführenden Beispielen, von den falschen Zahlen der Proparis-Pensionskasse, mit denen der SGB für seine Sache warb. Das sei nicht die Art und Weise, wie er Politik verstehe.

Moser ist Mitglied der Männerriege Andelfingen, jeden Montagabend trifft sich diese zur körperlichen Instandhaltung und geht danach in den Hirschen oder das Café Gans. Ein pensionierter Männerriegekollege sagte ihm nach einem Training, dass er gegen die BVG-Reform sei, weil er keine sinkenden Renten wolle. Moser schüttelte es, weil sich ausgerechnet für Rentner mit der Vorlage nichts geändert hätte. Für ihn ist die Anekdote ein Beleg dafür, wie die Kampagne der Gewerkschaften verfing. Moser wirft darum die Frage auf, wie weit man gehen darf in einem Abstimmungskampf.

Kaum jemand sei bei der BVG-Reform «drausgekommen»

Der Vorwurf zielt auch auf Urban Hodel. Der sagt, es sei doch normal, wenn man auf die Schwächen der Vorlage hinweise. «Und das ist nun mal die Komplexität gewesen. Kaum jemand ist drausgekommen, das hat uns sicher geholfen.»

Hodel spricht von der Wucht der Basis, von den vielen Freiwilligen und Spendern. Er erzählt, wie man bereits beim Sammeln der Unterschriften für das Referendum realisiert habe, dass der Slogan «Mehr bezahlen für weniger Rente» bei den meisten Leuten am meisten ziehe. Tests mittels Umfragen hätten dies später noch bestätigt.

Er sagt, wie man ebenfalls mit Umfragen geprüft habe, welche Gesichter die höchste Glaubwürdigkeit bei den Menschen hätten. Es sind mit deutlichem Abstand Lampart in der Deutschschweiz und Maillard in der Westschweiz. Sie schickt man dann in die TV-Studios und auf die Podien. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Zu seinen Gunsten spielte aber zweifellos auch, dass es Sozialreformen, erst recht eine derart verworrene, beim Volk immer schwer haben.

Vom Abstimmungskampf bleiben werde die Erkenntnis, da ist Hodel überzeugt, dass es in sozialpolitischen Fragen nicht ohne den SGB mit seinen 370’000 Mitgliedern gehe. «Das Parlament und die Arbeitgeber wissen das jetzt.» Und dieses Wissen, das ist Macht.

Arbeitgeberpräsident Severin Moser sieht das etwas verhaltener. Natürlich hätten die Gewerkschaften nun zweimal in Folge gewonnen. Doch daraus eine Vorherrschaft bei sozialpolitischen Themen abzuleiten, sieht er als falschen Schluss. Schliesslich beginne das Spiel mit jeder Vorlage, mit jeder Abstimmung von vorne.