Antworten zum brisanten Urteil Bewilligung des Bundesrats für Notkraftwerk war illegal
Die Landesregierung hätte das fossile Kraftwerk Birr nicht zulassen dürfen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht abschliessend entschieden. Klimaschützer jubeln – und stellen Forderungen.
Die Erleichterung ist durchs Telefon hörbar. «Ich freue mich über den Entscheid des Gerichts», sagt Gillian Müller. Die pensionierte Englischlehrerin aus Birr hat sich juristisch gegen den Bau des fossilen Notfallkraftwerks in der aargauischen Gemeinde gewehrt – und bekommt nun recht.
Der Fall geht auf den Herbst 2022 zurück. Ein halbes Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs stehen die Schweiz und Europa vor einem ungewissen Winter: Werden Strom und Gas knapp? Der Bundesrat beschliesst mehrere Massnahmen, um die Energieversorgung zu stärken. Dazu gehört der Aufbau einer Wasserkraft-Reserve. Aber nicht nur: Ab Februar 2023 soll in Birr ein Reservekraftwerk mit acht Turbinen bereitstehen, um im Notfall mit Öl oder Gas Strom produzieren zu können.
Gegen die Betriebsbewilligung erhebt Müller mit Unterstützung des Klimastreiks Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen. Es sei falsch, angesichts der Klimakrise neue fossile Kraftwerke zu bauen.
Nun ist das Urteil, das vom 19. Februar datiert, öffentlich: Der Bundesrat war nicht berechtigt, eine Betriebsverordnung für das Reservekraftwerk zu erlassen.
Was war umstritten?
Der Bundesrat beschloss auf dem Verordnungsweg, also in Eigenregie, dass gewisse bundesrechtliche Bestimmungen nicht anwendbar sind – ebenso diverse kantonale Vorschriften. Dabei geht es etwa um die Vorgabe, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, sowie um kantonale und kommunale Bewilligungspflichten.
«Angesichts der unmittelbar drohenden schweren Mangellage bei der Stromversorgung» wollte die Landesregierung den Bau des Kraftwerks umgehend ermöglichen, wie sie in ihrer Verordnung festhielt. Als rechtliche Grundlage diente ihr das Landesversorgungsgesetz. Dort heisst es, «im Fall einer unmittelbar drohenden (...) Mangellage» kann der Bundesrat «zeitlich begrenzte wirtschaftliche Interventionsmassnahmen» ergreifen, um die Energieversorgung zu sichern.
Was beanstandete Gillian Müller?
Ihrer Ansicht nach bestand für den Winter 2022/23 keine unmittelbar drohende schwere Mangellage. Warum? Die Stauseen der Schweiz seien zu 80 Prozent gefüllt gewesen, als der Bundesrat entschieden habe, das Reservekraftwerk zu errichten. Zudem hätte eine Strommangellage mit milderen Mitteln abgewendet werden können, etwa mit einer Reduktion des Stromverbrauchs, so Müller.
Der Bundesrat hielt Anfang November 2022 selber fest, Versorgungsengpässe könnten nicht ausgeschlossen werden, die Stromversorgungssicherheit der Schweiz im Winter 2022/23 sei aber «nicht gravierend gefährdet». Er bezog sich dabei auf eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Energie. Es sei, so Müller, daher nicht verhältnismässig gewesen, geltendes Recht – insbesondere zum Schutz vor zu viel Lärm und Luftverunreinigungen – vorübergehend ausser Kraft zu setzen.
Was sagt nun das Gericht?
Das Bundesverwaltungsgericht hält fest: Das zuständige Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) habe nicht darlegen können, aufgrund welcher Annahmen der Bundesrat «eine schwere Mangellage angenommen hatte».
Zwar besteht laut besagter Studie in 13 Prozent der betrachteten 2380 Simulationen eine Knappheitssituation. Allerdings lasse die Studie keine Rückschlüsse zu, ob die Stromnachfrage deswegen nicht hätte gedeckt werden können, so das Gericht. Damit habe auch die gesetzliche Voraussetzung für die Betriebsbewilligung des Kraftwerks gefehlt.
Das Gericht bemängelt zudem, der Bundesrat habe keine genügende Interessenabwägung vorgenommen – nicht zuletzt mit Blick auf die Umweltauswirkungen des Reservekraftwerks.
Wie reagiert der Bund?
Das Uvek nimmt «zur Kenntnis», dass das Gericht das «dokumentierte Tatsachenfundament» als nicht ausreichend beurteilt hat, und würde «dies in einem nächsten Fall weiter vertiefen».
Es erinnert zudem daran, dass der Bundesrat im Umfeld der damals dynamischen und zeitweise unberechenbaren Entwicklung der Energieversorgung im In- und Ausland gehandelt habe. Mit der Verordnung sei er seiner Verantwortung nachgekommen, die Versorgungssicherheit von Wirtschaft und Bevölkerung auch bei einer negativen Entwicklung und mit kalten Witterungsbedingungen sicherstellen zu können.
Wie geht es nun weiter?
Das Urteil ist abschliessend, kann also nicht angefochten werden. Es hat aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf den aktuellen Betrieb von Birr. Denn die angefochtene Betriebsbewilligung war vom 20. März bis zum 31. Mai 2023 befristet.
Der Gerichtsentscheid wirft jedoch grundsätzliche Fragen auf: Unter welchen Umständen darf der Bundesrat von einer drohenden schweren Mangellage ausgehen? Welche Gegenmassnahmen sind verhältnismässig? Inwieweit darf der Bundesrat gesetzliche Bestimmungen für nicht anwendbar erklären?
Was sagt der Rechtsexperte?
Für Andreas Glaser, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich, ist klar: «In künftigen Fällen bräuchte es für Interventionsmassnahmen viel stichhaltigere Belege für eine Mangellage.»
Das Urteil hinterlässt beim Rechtsexperten allerdings einen «zwiespältigen Eindruck». Zum einen kritisiere es die vorschnelle Annahme einer Mangellage durch die Bundesbehörden, die nicht durch Fakten belegt gewesen sei. Zum anderen halte das Gericht fest, dass neben Vorschriften des Bundes auch kantonale Bestimmungen übersteuert werden dürften. Mit Blick auf die «Tatsachenfragen» habe das Gericht also gegen den Bundesrat entschieden, in den bedeutsameren Rechtsfragen habe es den Bundesrat aber offenbar bestätigt.
Was bedeutet das Urteil politisch?
Die Strategie des Bundes, fossile Kraftwerke als Notfallanker zu nutzen, ist umstritten. Die Organisation Klimastreik verlangt nun, der Bundesrat dürfe keine neuen Kraftwerke bauen lassen, das Parlament ebenso wenig. Die Verträge des Bundes mit den zwei anderen Kraftwerken in Cornaux NE und Monthey VS seien aufzulösen. Das Kraftwerk in Birr sei umgehend zurückzubauen, es gebe dafür keine Grundlage, wie das Urteil zeige.
Das Uvek entgegnet, das Gericht habe nur die Betriebsbewilligung für das Jahr 2022/2023 beurteilt. Die Bereitstellungsverfügung, die den Bau regelt, sei nicht Gegenstand des Entscheids.
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