Ungleiche BehandlungOb ein Kind eine Krebstherapie bekommt, entscheidet die Krankenkasse
Manche Kassen bezahlen Medikamente, die nicht erstattungspflichtig sind, andere nicht. Nun will der Bund einheitliche Regeln für alle schaffen.
Andrea Meier (Name geändert) leidet an einem bösartigen Tumor, der sich in ihrem Magen ausbreitet. Zwei Chemotherapien haben bei der 68-jährigen Patientin keine Besserung gebracht. Ihr Arzt im Kantonsspital Baselland schlug deshalb ein noch nicht offiziell zugelassenes Medikament vor.
Diese Notfalltherapie ist im Artikel 71 der Verordnung über die Krankenversicherung geregelt. Der Arzt kann damit um eine Vergütung bei der Krankenkasse ersuchen. Offlabel-Use heisst das in der Fachsprache. Und das kommt immer öfter vor.
«Die Bewilligung der Gutsprache hängt davon ab, bei welcher Krankenkasse ich versichert bin.»
Ob und wie die Kassen solche Anträge genehmigen, fällt jedoch höchst unterschiedlich aus. Die Folge: «Die Bewilligung der Gutsprache hängt davon ab, bei welcher Krankenkasse ich versichert bin», sagt Flavia Wasserfallen, SP-Nationalrätin und Präsidentin des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen.
In einem Test hat das volkswirtschaftliche Beratungsunternehmen BSS den Krankenversicherern anhand von Meiers Krankengeschichte ein Gesuch eingereicht: 25 Prozent der Kassen lehnten den Antrag ab, 20 Prozent genehmigten ihn, und 40 Prozent wollten einen Therapieversuch wagen, bei dem zunächst der Medikamentenhersteller die Behandlungskosten zahlt und die Kasse nur bei Erfolg die Kosten wiedererstattet. Die übrigen Versicherer konnten auf Grundlage des Antrags keinen Entscheid treffen.
Die Ungleichbehandlung verschärft sich
Nun will der Bund mehr Gerechtigkeit bei den Offlabel-Vergütungen. Dafür soll die rechtliche Grundlage überarbeitet werden. Dies ist der Artikel 71 der Verordnung über die Krankenversicherung. Das zuständige Bundesamt für Gesundheit bestätigt, dass eine Revision der Verordnung in Arbeit ist.
Denn das Problem der Ungleichbehandlung verschärft sich, weil die Zahl der Offlabel-Anträge von Jahr zu Jahr steigt. 2019 waren es bereits 38’000, rund die Hälfte davon betrifft Krebsbehandlungen. 80 Prozent der Anträge werden gutgeheissen, zeigt ein Bericht des Bundesamts.
Besonders die Krebsbehandlung von Kindern wird oft über Offlabel-Vergütungen abgerechnet, da viele Krebsmedikamente nicht für Kinder zugelassen sind. Die Pharmaindustrie beantragt die Extrazulassung für Kinder oft nicht, da es sich nicht lohnt. Die Folge: Ob ein Kind eine Krebstherapie bekommt oder nicht, entscheidet dann die Krankenkasse.
«Die Möglichkeit der Offlabel-Vergütung ist für Patientinnen und Patienten ein wichtiges Instrument, problematisch ist die ungleiche Behandlung.»
Patientenvertreterin Wasserfallen sagt: «Die Möglichkeit der Offlabel-Vergütung ist für Patientinnen und Patienten ein wichtiges Instrument, problematisch ist die ungleiche Behandlung.» In diesem Punkt stimmen ihr Pharmamanager und Krankenkassenvertreter zu.
Doch wie mehr Fairness bei den Offlabel-Vergütungen erreicht werden kann, da gehen die Meinungen auseinander – und es bilden sich ungewöhnliche Allianzen.
So wollen die Patientenvertreter und die Pharmakonzerne den Vertrauensärzten der Krankenkassen die Entscheidungshoheit bei den Offlabel-Vergütungen entziehen – zumindest teilweise. «Zur Beurteilung komplexer Fälle halten wir die Schaffung eines Expertengremiums für nötig», sagt Wasserfallen.
Vincent Gruntz, der bei Novartis in der Schweiz das Onkologiegeschäft verantwortet, befürwortet ebenfalls, dass «Vertrauensärzte die Prüfung der Anträge, vor allem bei sehr komplexen Therapien zum Beispiel in der Onkologie, nicht ohne die Unterstützung eines zentralen Expertengremiums vornehmen, um eine qualifizierte und einheitliche Praxis bei der Beurteilung der Anträge zu gewährleisten».
Die Krankenversicherer wollen davon nichts wissen, sehen aber den Handlungsbedarf und sind selber aktiv geworden. So sind die vier Mitglieder des Verbands Curafutura – CSS, Helsana, Sanitas, KPT sowie Swica – an der Erarbeitung einer Plattform, um eine einheitliche Grundlage für die Nutzenbewertung der Anträge zu schaffen. Diese soll Anfang kommenden Jahres installiert werden.
Konkret erarbeiten die Vertrauensärzte der Versicherer ihre Ratings von Studien zu Behandlungen sowie die Bewertungen von Therapien gemeinsam. Laut Curafutura soll die Plattform allen interessierten Versicherern offenstehen. «Damit wollen wir sicherstellen, dass vergleichbare Therapieanträge auf Basis der gleichen Nutzenbewertung entschieden werden», erklärt Andreas Schiesser, Projektleiter Pharma bei Curafutura.
Der Preispoker zieht sich
Das Bundesamt für Gesundheit scheint diesen Selbstregulierungsansatz der Schaffung eines neuen Expertengremiums vorzuziehen. So erklärte das Amt, dass durch die «Definition von Nutzenkategorien» eine einheitlichere Genehmigungspraxis sichergestellt werden solle.
Es gibt mehrere Gründe, warum die Zahl der Offlabel-Vergütungen ansteigt. Ein wichtiger Grund ist, dass es immer länger dauert, bis sich Pharmakonzerne und das Bundesamt für Gesundheit auf einen Preis für die normale Vergütung bei neuen Medikamenten einigen.
Der Prozess läuft so: Zunächst muss Swissmedic ein neues Mittel für den Einsatz zulassen. In einem zweiten Schritt legt das Bundesamt dann fest, zu welchem Preis das Mittel von den Kassen vergütet wird – in dem Fall wird das Mittel auf die sogenannte Spezialitätenliste der erstattungspflichtigen Medikamente aufgenommen.
Steht ein neues Medikament noch nicht auf der Liste, können Ärztinnen aber bereits dessen Einsatz bei der Kasse des Patienten über die Offlabel-Vergütung beantragen. Dann muss sich der Versicherer mit dem Hersteller auf einen Preis einigen.
Es ist oft zu hören, dass einige Pharmafirmen ganz zufrieden damit seien, den Preis für ihre Medikamente mit den Versicherern selbst zu verhandeln und sich nicht mit dem Bundesamt herumärgern zu müssen.
Bezahlen Kassen noch Therapieversuche?
Denn der Artikel 71 für Offlabel-Vergütung sieht auch vor, sogenannte Therapieversuche zu bezahlen. Dabei wird der Einsatz des neuen Mittels genehmigt, doch die Kosten trägt zunächst der Hersteller – bis der Behandlungserfolg eintritt. Dann erstatten die Kassen.
Wie in Bundesbern zu hören ist, wird dies aber nicht so gern gesehen. «Wir wollen keine Pharmaforschung bezahlen», lautet ein Argument. Daher wird bei der anstehenden Revision der Verordnung auch geprüft, ob solche Therapieversuche weiterhin bezahlt werden. Andreas Schiesser von Curafutura plädiert dafür, daran festzuhalten.
Patientenvertreterin Flavia Wasserfallen fordert, die anstehende Reform des Artikels 71 zu nutzen, um eine grundsätzliche Reform des Preisfestsetzungssystems anzustossen. Gerade bei neuen, teuren Therapien würden Preismodelle mit Bezahlung im Erfolgsfall an Bedeutung gewinnen. «Diese brauchen eine gesetzliche Grundlage und müssen transparent sein», sagt sie.
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