Gesteinsmassen in BewegungBündner Dorf Brienz bereitet sich auf Evakuierung vor
Das Bündner Bergdorf droht erneut verschüttet zu werden. Eine Steinlawine könnte es mit über 80 Stundenkilometern erreichen.
Brienz droht erneut verschüttet zu werden. Eine Steinlawine könnte das Bündner Bergdorf mit über 80 Stundenkilometern erreichen. Möglicherweise müssen die Bewohnerinnen und Bewohner bereits in den kommenden Tagen evakuiert werden.
«Bereiten Sie sich bitte umgehend darauf vor», sagte Pascal Porchet, Leiter des kantonalen Amts für Militär und Zivilschutz am Samstagabend vor den Betroffenen in Tiefencastel GR. Es solle alles mitgenommen werden, was mit Geld nicht ersetzt werden könne.
Leben mit gepackten Koffern
Die Bevölkerung stehe unter einer «riesigen psychischen Belastung». Der Gemeindepräsident Daniel Albertin appellierte an sie, die Hoffnung nicht zu verlieren. «Wie lange wollen sie uns das noch zumuten?», fragte ein Bewohner. Er lebe mit gepackten Koffern. Man müsse sich vorstellen, was das mit einem mache.
Ein anderer bat die Gemeinde, den Schritt der erneuten möglichen Evakuierung zu überdenken. Insbesondere für Landwirte sei die Situation eine Katastrophe, auch weil eine Evakuierung Monate dauern könnte. Ein weiterer Landwirt klagte, er wisse nicht, wohin mit seinen Tieren, insbesondere weil der Winter bevorstehe.
Rutschgeschwindigkeit hat massiv zugenommen
Die 1,2 Millionen Kubikmeter absturzgefährdeten Gesteinsmassen sind laut den Behörden im Vergleich zum letzten grossen Ereignis vom Juni 2023 sehr feucht. Deshalb müsse davon ausgegangen werden, dass sie schneller abrutschen und weiter ins Dorf vordringen könnten. Im Juni letzten Jahres stoppte eine Steinlawine kurz vor dem Dorf. Erreicht die losgelöste Felsmasse eine hohe Geschwindigkeit, könnte sie über den bestehenden Schuttkegel hinausgleiten.
Zuletzt nahm die Rutschgeschwindigkeit des Gesteins massiv zu. Die Gemeinde rief deshalb am Samstagmorgen die «Phase Gelb» aus. Damit wird eine Evakuierung vorbereitet.
Schutthalde bewegt sich mehr als 30 Zentimeter pro Tag
Der Zeitpunkt der Evakuierung ist noch nicht festgelegt. Anders als bei der «Insel» im Sommer 2023 könnten keine längeren Vorwarnzeiten erwartet werden, teilte die Gemeinde am Samstag mit. Die Messungen des Frühwarndienstes der Gemeinde zeigten, dass sich der oberste Teil der Schutthalde seit der zweiten Septemberhälfte mit zeitweise mehr als 30 Zentimeter pro Tag bewegt.
Zwar werde eine Beruhigung der Lage erwartet, ein Schuttstrom aus der Schutthalde könne aber leider nicht ausgeschlossen werden. Er könnte durch weitere Niederschläge, einen Felssturz von oben auf die Schutthalde oder bereits durch die anhaltenden, hohen Geschwindigkeiten ausgelöst werden.
Der Gemeindeführungsstab informierte am Samstagabend in Tiefencastel gemeinsam mit Experten für Geologie und Naturgefahren sowie Verantwortlichen des Kantons Graubünden die Bevölkerung über die aktuelle Lage und die geplanten Massnahmen.
Behörden versuchen zu beruhigen
Gemeindepräsident Daniel Albertin versuchte die Stimmung zu beruhigen: «Sie können auf unsere Solidarität vertrauen.» Er verwies auf den laufenden Bau des 2,3 Kilometer langen Entwässerungsstollens unterhalb des Dorfes. Für 40 Millionen Franken soll er die Landmasse entwässern und so den Druck auf die Rutschungen reduzieren. Die Behörden hätten deshalb den Glauben nicht verloren, die Heimat zu erhalten, so Albertin weiter.
Dennoch musste er sich der Kritik stellen, nicht auf existenzielle Fragen zu antworten. Die Wohnbedingungen seien katastrophal, so ein Betroffener. Das gesamte Dorf rutscht derzeit mit 2,4 Meter pro Jahr talwärts. Die Häuser seien deshalb teilweise stark beschädigt. Türen würden nicht mehr schliessen, die Kanalisation funktioniere nicht mehr einwandfrei. Dennoch würden erst Totalschäden finanziell entschädigt.
Gewaltiger Schuttstrom im Vorjahr
Brienz wurde zuletzt am 12. Mai 2023 evakuiert. Aus dem mächtigen Berghang oberhalb des Dorfes drohten bis zu zwei Millionen Kubikmeter Gestein abzustürzen – mit einem Volumen von 2000 Einfamilienhäusern.
In der Nacht auf den 16. Juni 2023 gingen dann auch 1,2 Millionen Kubikmeter Fels als gewaltiger Schuttstrom ab. Dieser stoppte kurz vor dem Dorf und verschonte dieses. Anfangs Juli 2023 konnten die Brienzerinnen und Brienzer in ihre Häuser zurückkehren.
Mitte März 2024 waren wiederum einige tausend Kubikmeter Felsmaterial oberhalb der Gemeinde abgestürzt. Das Bündner Bergdorf wurde dabei verschont. Weil das Plateau, mit fünf Millionen Kubikmetern der grösste und höchste Teil oberhalb des Dorfes mit 4,3 Metern pro Jahr gegen das Tal rutschte, bildeten sich laufend neue Spalten. Teile der Felswand verloren dadurch Halt und stürzten ab.
Zuletzt führten im Mai des laufenden Jahres heftige Niederschläge zudem zu vermehrten Block- und Steinschlägen aus der Rutschung. Für das Dorf bestand laut Behördenangaben damals aber ebenfalls keine Gefahr.
SDA/oli
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