737-Max-ZwischenfallTür-Abbruch für Boeing-Chef ein «Quality Escape»
Eines muss man Dave Calhoun lassen: Er hat den wahrscheinlich am stärksten irreführenden Euphemismus geprägt, den man sich angesichts der aktuellen Lage von Boeing vorstellen kann.
Das Drama rund um den Alaska-Airlines-Flug 1282 sei wahrscheinlich auf einen «Quality Escape» zurückzuführen, das berichtet Boeing-Chef Dave Calhoun in einem Fernsehinterview. Einigermassen korrekt übersetzt also: auf einen «Qualitätsausreisser».
Der Begriff soll den Eindruck vermitteln, dass das, was am 5. Januar in der Nähe von Portland, Oregon, passiert ist, ein womöglich einmaliges Versehen war, bei ansonsten bester Produktionsqualität. Etwas, das auch schnell wieder in Ordnung gebracht werden kann, etwa dadurch, dass man Bolzen auch ordentlich mit einer Schraube befestigt oder sie überhaupt beim Zusammenbau eines Flugzeuges nicht einfach vergisst – Genaueres wird die Untersuchung des National Transportation Safety Board (NTSB) noch ergeben müssen. Ein «Nice Try» sozusagen, ein netter Versuch also, die Debatte gleich einmal in die von Boeing gewünschte Richtung und von tiefer liegenden, systemischen Problemen weg zu lenken.
Calhouns Problem ist nur: Langsam glaubt ihm die Geschichte niemand mehr.
Dass es keine Katastrophe gab, lag an glücklichen Umständen
Zur Erinnerung: Alaska 1282, eine Boeing 737 Max 9, sollte mit 171 Passagieren und sechs Besatzungsmitgliedern an Bord von Portland nach Ontario, Kalifornien, fliegen. In Höhe von etwa 16’000 Fuss, also knapp 5000 Metern, flog ein Pfropfen mitsamt Kabinenverkleidung, der an der Stelle eines deaktivierten Notausgangs dort werksseitig eingebaut war, nach aussen weg.
Die Piloten des erst im Oktober 2023 ausgelieferten Jets erklärten einen Notfall, sanken schnell auf die für solche Fälle vorgesehene Höhe von 10’000 Fuss und kehrten nach 20 Minuten nach Portland zurück. Niemand wurde ernsthaft verletzt. 171 Maschinen gleicher Bauart, die meisten bei Alaska und United Airlines, bleiben bis auf weiteres am Boden. Alaska Airlines schickt nun sogar eigene Kontrolleure auf die Produktionslinien des Flugzeugbauers. Der Schritt macht den Vertrauensverlust in Boeings Qualitätskontrollen deutlich.
Dass der Vorfall nicht in einer Katastrophe mit potenziell vielen Toten endete, lag vor allem an vier glücklichen Umständen: Das Verschlussteil in der Grösse einer Tür verabschiedete sich im Steigflug auf noch relativ geringer Höhe. In der Reihe neben dem Loch im Rumpf sass niemand, die Anschnallzeichen waren noch eingeschaltet. Ausserdem traf das schwere Stück weder Höhen- noch Seitenleitwerk, die 737 war also weiter steuerbar.
Es ist mehr oder weniger klar, dass der Vorfall auf einen Montagefehler beim Boeing-Zulieferer Spirit Aerosystems, der den Rumpf der 737 baut, zurückzuführen ist. Geklärt werden muss, wie es überhaupt dazu kommen konnte, warum er anschliessend bei Boeing unentdeckt blieb und ob die Produktionsaufsicht der amerikanischen Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) genügend war.
Der kritisierte Zulieferer war früher mal Teil des Boeing-Konzerns
Der Zulieferer Spirit sorgt nicht zum ersten Mal für Probleme in der 737-Fertigung. Allein 2023 fiel die Firma aus Wichita, Kansas, mehrmals negativ auf, zuletzt im September, als Mechaniker unsachgemäss Löcher in das hintere Druckschott bohrten, ein weiterer potenziell gefährlicher Fehler.
Die tieferen Ursachen für die Pannenserie reichen weit zurück. Spirit Aerosystems war bis 2005 Teil von Boeing, doch damals war Outsourcing plötzlich hip, der Flugzeughersteller trennte sich von seinem Werk in Wichita, das aber weiter den Rumpf der 737 produziert. Nach dem Outsourcing kam das Sparen, Boeing nahm die Lieferanten in die Kostenmangel und drückte immer niedrigere Preise durch.
«Partnership for Success» nannte Boeing das Programm, ein weiterer Euphemismus natürlich, denn heute gilt die «Partnerschaft» als wesentlicher Grund, warum viele Boeing-Lieferanten ins Trudeln geraten sind. Spirit etwa steckte zuletzt in so grossen finanziellen und operativen Schwierigkeiten, dass Boeing schon im eigenen Interesse im Oktober 2023 eine neue Vereinbarung unterschrieb, durch die Spirit in den kommenden beiden Jahren für Arbeiten am Langstreckenjet 787 knapp 500 Millionen Dollar zusätzlich erhält – Spirit hatte allein in diesem Programm bislang 1,4 Milliarden Dollar verloren.
Die Schwierigkeiten, in denen Spirit steckt, sind übrigens auch für Airbus von Belang, die Amerikaner bauen mittlerweile wichtige Teile der Airbus-Jets A220 und A350. Retten sollen Spirit nun der ehemalige Boeing-Manager Pat Shanahan, der im Oktober Vorstandschef geworden ist.
Marktanteil gegenüber Airbus A320 neo unter 40 Prozent
Boeing selbst sieht sich seit Jahren dem Vorwurf ausgesetzt, vor allem die Wallstreet und die eigenen Anteilseigner zu bedienen, dabei aber die eigene Unternehmenskultur, die einst auf Ingenieurskunst und hervorragenden Flugzeugen basierte, zu vernachlässigen. Unvergessen die beiden Abstürze der 737 Max von Lion Air und Ethiopian Airlines Ende 2018 und Anfang 2019, bei denen 346 Menschen ums Leben gekommen waren und bei denen eine hastig entwickelte und übergriffige Flugsteuerungssoftware eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die darauffolgenden Untersuchungen förderten nicht nur technische Mängel zutage, sondern machten deutlich, wie sehr sich die Firma in falschen Prioritäten verirrt hat.
Die Alaska-Airlines-Notlandung hat sich zu einem Zeitpunkt ereignet, da Boeing auf mehr Ruhe in Sachen Max gehofft hatte. Spirit hatte die früheren Mängel behoben, es gab zuletzt ein paar schöne Aufträge unter anderem von der Swiss-Mutter Lufthansa, die ein wenig verdeckten, dass das Flugzeug mittlerweile einen Marktanteil von unter 40 Prozent gegenüber dem konkurrierenden Airbus-A320-neo-Programm hat.
Doch nun ist wieder Alarm. Denn nicht nur Spirit hat einen neuen Chef, sondern auch die FAA. Michael Whitaker, ein ehemaliger Pilot und Manager von United Airlines, hat die Aufgabe übernommen, den Ruf der Behörde, die auch im Zusammenhang mit den Max-Abstürzen ihre Aufsichtspflichten vernachlässigt hatte, wiederherzustellen.
Für Boeing sind das schlechte Nachrichten, denn Whitaker drängt nicht nur darauf, dass die FAA selbst wieder viel genauere Kontrollen bei Zulassung und Produktion einführt, sondern will nun sogar auch einen externen Dritten ein Audit in den Boeing-Werken durchführen lassen, um mögliche Versäumnisse zutage zu fördern.
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