Bilder aus Berg-KarabachStepanakert ist jetzt eine Geisterstadt
Nach der Massenflucht nach Armenien sind kaum Menschen geblieben. Die Stadt in Berg-Karabach ist leer, still, gespenstisch.
Zwei Wochen nach der aserbaidschanischen Militäroffensive haben über 100’500 Armenierinnen und Armenier ihre Heimat verlassen. Nur noch wenige Hundert Menschen befinden sich gemäss Angaben des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) in Stepanakert, der Hauptstadt der selbst ernannten Republik Berg-Karabach. Dass die jahrzehntelang umstrittene und umkämpfte Region mittlerweile unter der Herrschaft Aserbaidschans steht, zeigt sich bereits an den Strassenschildern: Stepanakert heisst nun Khankendi – das ist der aserische Name der Stadt. Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wurde aber vor allem von ethnischen Armeniern bewohnt.
Seit dem Massenexodus der armenischen Bevölkerung wird der Zugang nach Berg-Karabach von aserbaidschanischen Militärs und Polizisten kontrolliert. Medienleute konnten Stepanakert immerhin am Montag besuchen – allerdings nur für zwei Stunden und unter aserbaidschanischer Begleitung.
Eine Reporterin der französischen Nachrichtenagentur AFP berichtete über «eine intakte, aber sich selbst überlassene Stadt, erstarrt in drückender Stille, ohne den geringsten Hauch von Leben». Von der Strasse aus seien keine armenischen Flaggen mehr zu sehen. Mit Ausnahme eines alten, hageren Mannes in Begleitung von sechs Schäferhunden habe man keine Bewohner auf Stepanakerts Strassen erblickt. Gesehen habe man dagegen aserbaidschanische Sicherheitsleute und Angehörige der sogenannten russischen Friedenstruppe.
Stepanakert scheine von einer unsichtbaren Katastrophe eingefroren worden zu sein, berichtet eine AFP-Reporterin.
«Alle Wohnhäuser, Restaurants, Hotels und Supermärkte sind leer und verlassen, viele sind aufgebrochen und die Stände leer, ein Zeichen für Plünderungen oder überstürzte Abreisen», heisst es weiter im AFP-Bericht. Und weiter: «Die Fabriken, die Baustellen der neuen Mittelklassehäuser, die Gemüsegärten der kleinen Häuser, die Mülltonnen und sogar das Vieh sind sich selbst überlassen.» Stepanakert scheine von einer unsichtbaren Katastrophe eingefroren worden zu sein, berichtet die AFP-Reporterin nach der zweistündigen Autofahrt durch Berg-Karabachs Hauptstadt.
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Gespenstisch wirken auch die Aufnahmen des katarischen TV-Senders al-Jazeera. In einem Bericht schreitet ein Reporter durch das Stadtzentrum von Stepanakert. Hinter ihm sieht man zurückgelassene Gegenstände, leere Stühle und Kinderwagen. Stepanakert sei eine Geisterstadt ohne Seele, sagt der Reporter.
Die Medienberichte zeigen allerdings – weil Journalisten sich nicht frei bewegen können – ein unvollständiges Bild der Situation in Berg-Karabach. Nicht zu sehen waren zum Beispiel die beschädigten Wohnhäuser und andere zivile Einrichtungen, die von den aserbaidschanischen Streitkräften bei ihren Angriffen vor zwei Wochen getroffen worden waren. Dabei gab es auch Tote und Verletzte unter den Zivilisten auf armenischer Seite. Bei den kurzen, aber schweren Kämpfen kamen auf beiden Seiten etwa 400 Menschen um Leben. Bei der Explosion eines Treibstoffdepots in Stepanakert starben 170 Zivilpersonen.
IKRK sucht nach Zurückgebliebenen
Beschränkte Aussagekraft hat auch der Bericht einer UNO-Delegation, die einen Tag lang, am vergangenen Sonntag, Berg-Karabach besichtigen konnte. In den «besuchten Teilen» der Gebietshauptstadt Stepanakert habe das UNO-Team «keine Schäden an öffentlicher ziviler Infrastruktur» einschliesslich Spitälern, Schulen und Wohnungen gesehen, liess ein Sprecher des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, verlauten. Allerdings habe das UNO-Team «weder von der Bevölkerung noch von anderen Informationen über Gewalt gegen Zivilisten nach dem letzten Waffenstillstand» erhalten.
Inzwischen ist das IKRK vor Ort und sucht mit Megafonen in den Strassen von Stepanakert nach zurückgebliebenen Menschen. Beispielsweise sei heute Dienstag eine bettlägerige Frau in einer Wohnung entdeckt worden. Geflüchtete Nachbarn hätten ihr Vorräte an Essen und Trinken zurückgelassen, hätten sie aber nicht mitnehmen können, sagte IKRK-Sprecher Marco Succi der Nachrichtenagentur SDA.
Der vorerst letzte Flüchtlingsbus aus Berg-Karabach hat am Dienstag Armenien erreicht. Viele Vertriebene hätten gesundheitliche Probleme, heisst es aus Jerewan. Die Massenankunft von Menschen ¨überfordert Armeniens Behörden. Und viele Geflüchtete wissen weder, wohin sie gehen können, noch, was sie tun sollen, wie aus Medienberichten hervorgeht. (Lesen Sie auch den Artikel «Erschöpft und hungrig erreichen sie Armenien».)
Angst vor Verfolgung und Gewalt
Gemäss IKRK-Sprecher Succi sind auf den Strassen von Stepanakert aserbaidschanische Polizisten zu sehen. Strom und Wasser funktionierten. Er habe bislang nicht gesehen, dass aserbaidschanische Zivilisten in die verlassenen Wohnungen und Häuser gezogen seien. In den letzten Jahren hatten schätzungsweise 120’000 Armenierinnen und Armenier in Berg-Karabach gelebt.
Die Massenflucht ins Nachbarland Armenien erklärt sich aus der Angst der Karabach-Bevölkerung vor den neuen Machthabern aus Baku. Die geflüchteten Menschen sollen Verfolgung und Gewalt befürchtet haben.
Vertreter der mittlerweile aufgelösten selbst ernannten Republik Berg-Karabach haben angekündigt, vorerst nicht zu gehen, um die Rettungsmassnahmen für die Opfer des Konflikts zu überwachen. Ihr Anführer, Samwel Schahramanjan, teilte mit, «mit einer Gruppe von offiziellen Vertretern» in Stepanakert zu bleiben. Sie sollen sich um Gefallene und Vermisste kümmern. Die Republik Arzach, wie sich Berg-Karabach nennt, wird per 1. Januar 2024 aufgelöst.
Vorwurf des Völkermords
Armenien wirft dem autoritär geführten Aserbaidschan eine «ethnische Säuberung» vor. Das Regime von Ilham Alijew weist die Anschuldigungen zurück und betont einmal mehr, dass es keinen Grund für eine Flucht gebe und die Armenierinnen und Armenier gemäss den Gesetzen des Landes integriert würden. Aserbaidschan steht wegen Verstössen gegen Menschenrechte wiederholt international in der Kritik.
Der Vorwurf des Völkermords war bereits während der neun Monate langen Blockade von Berg-Karabach, die zu einer humanitären Notlage führte, geäussert worden. So zum Beispiel von Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. (Lesen Sie zum Thema auch den Gastbeitrag «Schweigen tötet».)
Die USA haben inzwischen erneut eine internationale Beobachtermission gefordert. Eine solche Mission würde der «Bevölkerung von Berg-Karabach Transparenz» bieten sowie die «Gewissheit», dass die Rechte der ethnischen Armenierinnen und Armenier geschützt und ihre Sicherheit gewährleistet würde, sagte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Matthew Miller. Dies gelte «insbesondere» mit Blick auf die rückkehrwilligen Menschen.
Zu dem armenischen Vorwurf einer «ethnischen Säuberung» wollte Miller sich nicht klar äussern. Er sagte jedoch, dass Washington die Vorwürfe «ernst» nehme. Sollten sich die Vorwürfe aufgrund von Beweisen erhärten, werde Washington «nicht zögern», darauf angemessen zu reagieren.
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