EU wartet auf Signal beim RahmenabkommenBern und Brüssel auf Kollisionskurs
Die EU-Kommissionschefin hat mit Simonetta Sommaruga Kontakt aufgenommen und auf Tempo beim Rahmenabkommen gedrängt. Brüssel befürchtet, dass die Schweiz weiter auf Zeit spielt.
Es war der erste Kontakt nach der längeren Funkstille: Es sei schön gewesen, mit Simonetta Sommaruga zu sprechen, teilte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Montagnachmittag nach dem Telefonat mit der Bundespräsidentin per Kurznachrichtendienst Twitter mit. Und fügte hinzu: «Ich appelliere an den Bundesrat, nun zügig vorwärtszumachen beim Abschluss des Rahmenabkommens.» Sie bekräftigte, dass die EU-Kommission hier bei Klarstellungen helfen können.
Natürlich gratulierte Ursula von der Leyen noch einmal zum Ergebnis der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit mit der EU. Doch das war es schon mit den Freundlichkeiten. Bereits in der ersten Reaktion am Sonntagabend war die Kommissionschefin rasch auf das Rahmenabkommen zu sprechen gekommen und drängte den Bundesrat unmissverständlich, das Rahmenabkommen nun zügig zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Ankündigung aus Bern, dass sich der Bundesrat vor Mitte Oktober nicht äussern will, passt Brüssel nicht ins Konzept.
Verhandlungen als Trauerspiel
Die Ungeduld ist jedenfalls unüberhörbar. Die Schweizer Regierung wolle offenbar weiter auf Zeit spielen, heisst es in EU-Kreisen. Diesen Eindruck vermitteln in Brüssel zumindest die ersten Signale aus Bern vom Abstimmungssonntag. Und man wundert sich, dass der Bundesrat gestärkt vom deutlichen Votum gegen die SVP-Initiative jetzt nicht den Befreiungsschlag beim Rahmenabkommen wagt. Sondern sich noch einmal Zeit nimmt, bevor er die in Aussicht gestellten drei Klärungswünsche beim Lohnschutz, den Staatsbeihilfen und der Unionsbürgerschaftsrichtlinie präsentiert.
Allerdings kommt die neuerliche Enttäuschung nicht ganz überraschend. Die Verhandlungen mit der Schweiz seien ein Trauerspiel, der Bundesrat habe offenbar keine Handschlagqualität, sagen EU-Diplomaten auch jetzt wieder. Die Klage über die Kakofonie aus Bern und den erratischen Bundesrat ist nicht neu. Zwischen Brüssel und Bern haben sich beim Rahmenabkommen längst zwei gegensätzliche Narrative etabliert.
Aus Sicht der EU wurden die Verhandlungen mit der Schweiz im November 2018 erfolgreich abgeschlossen, und zwar in Zürich bei einem Treffen zwischen Aussenminister Ignazio Cassis und EU-Kommissar Johannes Hahn. Laut Darstellung in Brüssel waren damals auch Vertreter der Kantone und aus der Bundesverwaltung dabei. Man sei ein letztes Mal Paragraf um Paragraf des Abkommens durchgegangen, und alle hätten ihr Einverständnis erklärt. Eine Schilderung, die in Bern vehement bestritten wird.
Das Stillhalteabkommen
Ein anderes Schlüsseldatum im Drama um das Rahmenabkommen ist der 20. Januar dieses Jahres. Die Kommissionschefin und die Schweizer Bundespräsidentin kamen dort am Rande des Wirtschaftsforums in Davos zu einem bilateralen Austausch zusammen. Simonetta Sommaruga soll dort Ursula von der Leyen um eine Stillhaltevereinbarung gebeten haben, und zwar bis zu der ursprünglich für Mai geplanten Abstimmung über die Personenfreizügigkeit, die dann wegen Corona auf September verschoben werden musste. Auf EU-Seite wäre man bereit gewesen, in der Zwischenzeit gemeinsam an den drei Klarstellungen zu arbeiten. Doch die Schweizer Seite fürchtete sich vor Leaks und vor negativen Auswirkungen auf den Abstimmungskampf zur Personenfreizügigkeit.
Die EU hielt sich an die letztlich neunmonatige Funkstille und ist jetzt umso mehr verwundert, dass die Schweizer Regierung noch immer nicht bereit ist, ihre Klarstellungen rasch zu präsentieren. Und natürlich registriert man in Brüssel auch, wenn CVP-Parteichef Gerhard Pfister oder Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann nun plötzlich den Kern des Verhandlungsergebnisses infrage stellen und nach über fünf Jahren wieder von vorne anfangen wollen. Schneider-Ammann sei doch dabei gewesen, als das Verhandlungsmandat mit der EuGH-Option beschlossen worden und als die Regierung von ihrem Chefunterhändler über die Gespräche informiert worden sei. Die Schweizer Regierung sei sich offenbar nicht bewusst, wie sehr sie ihre Glaubwürdigkeit beschädige, heisst es aus EU-Kreisen.
Die bilateralen Verträge würden schleichend erodieren.
Neuverhandlungen seien keine Option, bekräftigen EU-Diplomaten einhellig. Und selbst im hypothetischen Fall müssten Themen wieder auf den Tisch kommen, bei denen die EU in den Verhandlungen nachgegeben habe. Statt dem vorgelagerten Schiedsgericht gäbe es dann nur noch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Schiedsrichter. Gerne hätte die EU auch die neuen Bestimmungen zu den Staatsbeihilfen sofort angewandt, einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag endlich rechtlich verankert oder einen grösseren Geltungsbereich für das Rahmenabkommen durchgesetzt.
Umgekehrt werde es ohne die neue Grundlage für die bilateralen Verträge auf Schweizer Seite Opfer geben, heisst es in Brüssel. Gefährdet wäre nicht nur die Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon Europe. Im Mai 2021 steht etwa auch die Erneuerung des Abkommens über technische Handelshemnisse (MRA) für Medizinalprodukte wieder auf der Agenda. Die bilateralen Verträge würden schleichend erodieren.
Die Schweiz am Gipfel
Ursula von der Leyen wolle am Rande des EU-Gipfels zur Türkei und Belarus Ende dieser Woche auch über den Stand des Schweizer Dossiers informieren, heisst es in Brüssel. Interesse gibt es vor allem bei den Nachbarstaaten, aber auch bei den Osteuropäern, die wegen der seit Jahren blockierten Kohäsionsbeiträge zunehmend verärgert sind. Die Staats- und Regierungschefs kommen am 15. Oktober erneut zusammen, zum Entscheidungsgipfel beim Brexit. Ausgerechnet am Tag davor wolle die Schweizer Regierung offenbar informieren, wie es mit dem Rahmenabkommen weitergehen solle, wundert man sich in EU-Kreisen über das Timing. Die Schweiz überschätze ihr Erpressungspotenzial und hänge noch immer der falschen Vorstellung nach, dass der Brexit für ihre Anliegen beim Rahmenabkommen hilfreich sei. Das Gegenteil sei der Fall, der Spielraum für Zugeständnisse sei angesichts des Chaos mit den Briten gleich null.
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