MenschenrechtspolitikBerlin wird zum Fluchtort für Regimekritiker
Nicht nur Alexei Nawalny, sondern Dissidenten aus der ganzen Welt suchen in der deutschen Hauptstadt Zuflucht. Das hat auch mit Angela Merkel zu tun.
Es gibt ein eindrückliches Bild von Swetlana Tichanowskaja mit Angel Merkel. Wie ein Schulmädchen, den Kopf leicht geneigt, die Hände vor dem Körper verknotet, hört die weissrussische Oppositionsführerin der deutschen Bundeskanzlerin zu, die mit erhobener Hand auf sie einspricht.
Das Bild der beiden Frauen, das entstand, als Merkel Tichanowskaja vorletzte Woche demonstrativ im Kanzleramt empfing, sollte mehrere Botschaften aussenden, vor allem aber diese: Die weissrussische Opposition setzt ihre Hoffnung auf Deutschland, «eines der mächtigsten Länder der Welt», wie Tichanowskaja sagte. Und auf Merkel, «eine der grössten Führungspersonen der Welt».
Zuvor hatte sich die Deutsche schon den Mordanschlag auf den russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny zu eigen gemacht. Auf ihre Einladung wurde der Vergiftete in der Berliner Charité-Klinik behandelt. Scharf wie selten attackierte sie danach vor den Medien die russische Führung um Präsident Wladimir Putin. Merkel besuchte Nawalny sogar am Spitalbett und hatte nichts dagegen, dass die Welt davon erfuhr.
Die Treffen mit Tichanowskaja und Nawalny waren weder Zu- noch Einzelfälle. Derzeit pilgern vor allem die Gegner der Regime von Russland und Weissrussland nach Berlin. Vor Tichanowskaja war schon Weronika Zepkalo mit ihrem Mann in Berlin. Vor zwei Jahren hatte sich nach einem Giftanschlag der Mann der «Pussy Riot»-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa in der Charité erholt.
Letzte Woche empfing Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die weissrussische Schriftstellerin und Oppositionelle Swetlana Alexijewitsch. Die 72-jährige Nobelpreisträgerin lässt sich auf deutsche Einladung in Berlin medizinisch behandeln und hat hier temporär Zuflucht gefunden.
Die Dissidenten kommen aber längst nicht nur aus Osteuropa, sondern aus der ganzen Welt. Die Witwe des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo erhielt ebenso in Berlin Asyl wie zwischenzeitlich der Künstler Ai Weiwei oder seit 2016 der türkische Journalist Can Dündar. Dazu kommen Dissidenten aus Venezuela, Zimbabwe oder Kuba.
Gegen Ende ihrer langen Amtszeit wagt Merkel noch einmal unverhohlene Menschenrechtspolitik.
Ein wichtiger Grund für die gestiegene Anziehungskraft Berlins ist Angela Merkel. Die Frau, die seit der Wahl Donald Trumps und dem Ausfall der USA als moralische Weltmacht manche für die «letzte Führerin der freien Welt» halten. Von diesem Titel hält Merkel nichts, aber sie wagt gegen Ende ihrer langen Amtszeit offenkundig wieder, sich für gefährdete Menschenrechtler stärker öffentlich einzusetzen.
Dabei war die ehemalige DDR-Bürgerin einst durchaus mit diesem Impuls angetreten. 2007 empfing sie etwa den Dalai Lama. China, das das spirituelle Oberhaupt der Tibeter für einen gefährlichen Unruhestifter hält, tobte. Aber auch in Deutschland gab es Kritik. Merkels damaliger Aussenminister Steinmeier hielt deren Geste wahlweise für «Schaufensterpolitik» oder einen «Anfängerfehler».
Umstrittenes Treffen mit dem Dalai Lama
In der Folge ging die Kanzlerin mit autokratisch regierten Mächten wie China, Russland oder der Türkei diplomatischer um. Bei fast jedem Besuch in diesen Ländern traf sie sich zwar auch mit regimekritischen Menschenrechtlerinnen, Künstlern oder Anwältinnen – aber praktisch immer hinter verschlossenen Türen. Das hatte aus ihrer Sicht den Vorteil, dass sie den Gastgebern und dem Heimpublikum ihre kritische Haltung demonstrieren konnte, ohne gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen der Exportnation Deutschland zu beschädigen.
Auch heute nimmt Merkel trotz ihres sichtbareren Engagements für die Menschenrechte auf handelspolitische und strategische Interessen immer noch stark Rücksicht: Als Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys die russisch-deutsche Gaspipeline Nord Stream 2 zu kippen, ging ihr dann doch zu weit.
Merkel hat in den letzten Jahren schmerzlich miterlebt, wie die Regime in China, Russland oder der Türkei zunehmend autoritärer wurden. Sie redet zwar immer noch mit ihren alten Bekannten Xi Jinping, Putin oder Recep Tayyip Erdogan, hat aber den Glauben längst aufgegeben, deren Verhalten gross beeinflussen zu können. Dafür wendet sie sich ungenierter deren zivilgesellschaftlichen Gegnern zu. Sie setzt ihr politisches Kapital für sie ein und verschafft ihnen Hilfe und Aufmerksamkeit.
Dabei kann sie hinter den Kulissen auch emotional werden. «Wo unser Herz schlägt, das ist ja klar», rief sie letzte Woche laut «Welt» in einer internen Parteisitzung aus, als es um Weissrussland ging. Von den «tapferen Frauen» in Minsk sprach sie voller Bewunderung.
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