Bandenkriege im KokaingeschäftKalaschnikows, Kopfgeld und Blutrache: Wie in Belgien die Mafia wütet
Antwerpen gilt als Einfallstor für den Kokainschmuggel in Europa. Hier treiben vor allem albanische Clans ihr Unwesen. Ein spektakulärer Prozess gibt nun Einblick in das Drogenmilieu.

- Brüssel wird häufig von nächtlichen Schiessereien erschüttert, oft im Drogenmilieu.
- Untersuchungsrichter Michel Claise verarbeitet seine Erfahrungen in Romanen.
- In Lüttich beginnt ein Prozess gegen einen albanischen Drogenhändler.
- Am Hafen in Antwerpen wurden vergangenes Jahr 110 Tonnen Kokain sichergestellt.
Als Freund von Kriminalgeschichten ist man in Brüssel bestens aufgehoben. Neulich erst machte es mitten in der Nacht bum, bum, bum, bum, bum. 3.45 Uhr zeigte die Uhr auf dem Handy, und man dachte: Nanu, das klingt ja nach Gewehrschüssen. Und tatsächlich sollten die Brüsseler Medien einige Stunden später melden: Gewehrschüsse im Brüsseler Zentrum nachts um 3.45 Uhr.
Das nächtliche Herumballern gehört zum Alltag in der belgischen Hauptstadt. In der Region Brüssel dürfte es dieses Jahr schon um die 80 Schiessereien mit etwa einem Dutzend Toten gegeben haben, mehr als im gesamten Rekordjahr 2023. Die Polizeimeldungen folgen einer gewissen Routine. Meist wird auf einen Zusammenhang mit dem Drogenmilieu verwiesen und der Verdacht geäussert, es handle sich um ein «règlement de comptes». Um das Begleichen offener Rechnungen. (Lesen Sie zum Thema auch diesen Beitrag: «Wie Kokain aus Belgien Europa überflutet».)
Krieger, Türsteher, Kokainhändler
Wer als Freund von Kriminalgeschichten um 3.45 Uhr aus dem Schlaf gerissen wird, kann den Rest der Nacht auch gleich mit einem Buch verbringen. Um zu verstehen, wer da mit wem in Brüssel Rechnungen begleicht, empfiehlt sich ein Werk des Autors Michel Claise. Er gilt als Belgiens profiliertester Untersuchungsrichter, sein Spezialgebiet ist die organisierte Kriminalität, vor allem im albanischen Milieu. Seine Erfahrungen hat Claise in Romanen verarbeitet. Der letzte heisst «Code Kanun» und zeigt auf dem Cover den albanischen Doppeladler.

Ardit Spati, der Protagonist, wird in der albanischen Armee zum Krieger ausgebildet. Er flieht vor der Armut in der Heimat Anfang der Neunzigerjahre nach Brüssel und findet dort Unterschlupf bei Landsleuten. Schnell steigt er auf vom Türsteher in albanisch betriebenen Clubs zum Aufseher im albanisch beherrschten Strassenstrich am Nordbahnhof – und schliesslich zur grossen Nummer im albanisch beherrschten Geschäft mit Kokain. Das viele Schwarzgeld investiert er in Hotelbauten an der albanischen Adriaküste.
Clans tragen die Gewalt auf Europas Strassen
Zum Verhängnis wird Ardit Spati nicht die belgische Polizei, auch nicht der gewaltsam ausgetragene Revierkampf mit den marokkanischen Drogenclans – sondern das in Teilen seiner Heimat immer noch geltende, archaische Gewohnheitsrecht des «Kanun», das den ewigen Kreislauf der Blutrache festschreibt. Wenn ein Angehöriger der eigenen Sippe blutet, muss ein Angehöriger der Sippe des Täters bluten.
Die westlichen Demokratien, sagt Michel Claise, seien «am Arsch», wenn sie nicht endlich gegen diese Form organisierter Kriminalität vorgingen. Die Clans würden die Gewalt auf Europas Strassen tragen und mit den Milliardengewinnen aus dem Handel mit Drogen, Waffen und Frauen die Gesellschaften korrumpieren.
Belgien gilt wegen des Hafens von Antwerpen als Haupteinfallstor für das Kokain, das gerade Europa überschwemmt. Auch den Mahnungen von Michel Claise ist es zu verdanken, dass der belgische Staat seine Sicherheitsbehörden schlagkräftiger gemacht hat. Deshalb scheint die Menge der Kokainlieferungen nach Antwerpen jetzt zurückzugehen, deshalb finden in Belgien gerade einige grosse Drogenprozesse statt. Ein besonders spektakulärer hat diese Woche in Lüttich begonnen. Im Mittelpunkt steht ein Albaner, der Ardit Spati heissen könnte, aber den Namen Ilir P. trägt.
Der Fall Ilir P.
Die Brüsseler Zeitung «Le Soir» hat den Fall Ilir P. gross aufbereitet, wobei dem Freund von Kriminalgeschichten zugutekommt: «Le Soir» beschäftigt als Autor einen Mann namens Alain Lallemand, der sich, wie Untersuchungsrichter Michel Claise, als Buchautor einen Namen gemacht hat. Mit Liebe zum Detail verfolgt Lallemand den Weg des 48-jährigen Ilir P., als sammle er Stoff für einen neuen Roman.

Die kriminelle Geschichte des Ilir P. wird erstmals 2015 in Italien aktenkundig. Er hat für die ’Ndrangheta, die kalabrische Mafia, mit Drogen und Waffen gehandelt und wird zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Doch schon im Oktober 2016 gelingt ihm, gemeinsam mit zwei albanischen Landsleuten, die Flucht aus dem römischen Gefängnis Rebibbia. Er setzt sich nach Belgien ab und entwickelt von Lüttich und Brüssel aus sein Geschäftsmodell: das Herausholen von Kokain und anderen Drogen aus Containern, die aus Südamerika kommend in europäischen Häfen ankommen.
Eine Flotte von Kleinlastern, Autos und Flugzeugen
Seine Spuren führen zu den Häfen von Antwerpen, Rotterdam, Hamburg, Oslo, Helsingborg, Piräus und sogar Odessa. Das Team von Ilir P. verschafft sich Zugang, indem es Sicherheitsfirmen oder Handelsgesellschaften infiltriert oder Hafenpersonal besticht. Eine Flotte von Kleinlastern, Autos und Flugzeugen lässt er präparieren, um die Drogen von den Häfen zu Labors zu bringen, in denen sie für den Endverbrauch vorbereitet werden. Dann geht die Ware an den Auftraggeber.
Weil Ilir P. in diesem Geschäft viel mit den Chefs der kalabrischen Mafia verhandelt, kommt ihm bald die italienische Polizei auf die Schliche. Diese gründet ein gemeinsames Ermittlungsteam mit Beamten aus Belgien und Deutschland. Dank abgehörter Gespräche können sie immer wieder Leute aus dem Team von Ilir P. identifizieren.
Dazu gehören laut «Le Soir» die albanischen Brüder Laurenc und Ilirjan T., die italienische Kriminalgeschichte geschrieben haben. Sie entführten im Jahr 2012, um Geld von Silvio Berlusconi zu erpressen, dessen Buchhalter Giuseppe Spinelli. Der Versuch scheiterte, die Brüder wurden aufgrund von DNA-Spuren identifiziert, aber nicht geschnappt. Sie stehen nun in Lüttich mit Ilir P. vor Gericht, genau wie Erion H., ein Albaner, der knapp dem Tod entronnen ist.
Von Auftragskillern durchlöchert
Erion H., der gemeinsam mit Ilir P. aus dem römischen Gefängnis geflohen war, wird am Abend des 11. Juni 2022 von zwei Auftragskillern mit sechs Gewehrkugeln durchlöchert, mitten in der Brüsseler Innenstadt, vor einem grossen Hotel. Grund für den Mordanschlag ist offenbar albanische Blutrache, mit der sich zwei albanische Sippen über Generationen hinweg überziehen.
Der Code Kanun. Hier treffen sich Realität und Fiktion.
Als Ilir P. im Juni 2023 in der Nähe von Frankfurt am Main verhaftet wird, sagt er den Ermittlern, die Kalaschnikows, die man bei ihm fand, hätten nur einem Zweck gedient: Er habe seinen Bruder rächen wollen, der von einem anderen albanischen Clan erschossen und verbrannt worden sei. Im Drogengeschäft sei er ein kleines Licht gewesen.
Wie viel Geld im europäischen Kokaingeschäft steckt, lässt sich nur grob schätzen. Belgische Ermittler raten, zwei Zahlen ins Verhältnis zu setzen: Am Hafen in Antwerpen wurden vergangenes Jahr 110 Tonnen Kokain sichergestellt, vermutlich nur zehn Prozent der gesamten Lieferungen – und der Preis für Endverbraucher liegt in Belgien pro Gramm bei etwa 50 Euro. Und noch eine Zahl, die der Ermittlungsrichter Claise in die Welt setzte: Die albanische Drogenmafia habe ein Kopfgeld von einer Million Euro auf einen belgischen Bundesstaatsanwalt ausgesetzt, der gegen sie ermittle. Das ist der Stoff, aus dem Kriminalgeschichten sind.
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