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Bundestagswahl in Deutschland
Bei den Grünen spricht niemand mehr vom Kanzleramt

«Nie war eine Bundestagswahl so offen»: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen, macht auf dem Ludgeriplatz in Duisburg Wahlkampf. 
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Persönliche Angriffe, Selbstzweifel, Haare raufen? Ach was. Die Kandidatin jedenfalls scheint entschlossen, der Welt ein möglichst unbeeindrucktes Gesicht zu zeigen. Nur dass es zwischendurch dann halt doch etwas ungemütlich wird auf dieser Tour. «Pfui! Raus mit dir», brüllt da jemand. Und: «Nicht meine Kanzlerin.» Annalena Baerbock versucht, einfach weiterzureden. «Nie war eine Bundestagswahl so offen», sagt sie.

Diese Woche auf dem Ludgeriplatz in Duisburg, Hunderte Menschen stehen hier zwischen bescheidenen Mietshausfassaden und einer Kirche, mit Blick auf einen froschgrünen Wahlkampfbus. Die Kanzlerkandidatin ist angereist, bis zur Bundestagswahl am 26. September will sie kreuz und quer durchs Land reisen, mal mit, mal ohne ihren Co-Parteivorsitzenden Robert Habeck. Eine Art Synchronschwimmen der beiden Spitzengrünen ist da geplant, bei dem jeder Anschein von Wettbewerb vermieden werden soll. Habeck besuchte Norddeutschland, redet sich in Bremerhaven durch Applaus und wütendes Tröten. Annalena Baerbock ist im einstigen Kohle- und Stahlrevier an der Ruhr unterwegs. Mit dem Wahlvolk ins Gespräch kommen, das ist das eine, Respekt zurückgewinnen, das andere, vielleicht noch wichtigere Ziel der Übung.

Jetzt geht es um einen guten zweiten Platz

Denn nach einem spektakulären Aufbruch in den grünen Wahlkampf und einer ebensolchen Vollbremsung nach allerlei Fehlern von Baerbock wollen die Grünen jetzt wieder vorangehen. In Umfragen stehen sie mal knapp über, mal knapp unter 20 Prozent. Es wird da jetzt um einen guten Platz zwei gekämpft, auch wenn das an der Parteispitze keiner laut sagt. Ein Fünftel der Wählerstimmen, das wäre doch ein Riesenerfolg, heisst es auch. Bleibe es dabei, komme bei der Bildung der nächsten deutschen Regierung an grünen Forderungen niemand vorbei.

Vom Kanzleramt allerdings redet derzeit kaum noch jemand bei den Grünen, und statt leidiger Personalfragen will die Partei lieber politische Inhalte diskutieren. Klimapolitik, sozial gerechter Umbau der Gesellschaft, neue Industriepolitik, vielfältige Gesellschaft, Mut zum Wandel, das sind die Themenfelder, die Baerbock bei ihrer Tour ansteuert. Nur, ganz einfach ist das eben nicht, weil so mancher inzwischen nur auf den nächsten Patzer der Spitzenkandidatin lauert oder sowieso nicht mehr hinhört.

In Duisburg sind es erst drei, dann knapp zehn Männer aus der Szene der Verschwörungsmystiker, sie stehen mit gärender Wut im Gesicht am Rand des Ludgeriplatzes und brüllen gegen die Menge an. Hunderte haben sich da zu freundlichem Baerbock-Applaus versammelt, viele junge Leute, aber auch in die Jahre gekommene Velofreundinnen und Ostermarschierer. Hier kann man etliche noch unentschlossene Wählerinnen und Wähler aus dem bürgerlichen Spektrum treffen, aber auch viele entschlossene.

«Auf die alten Männer habe ich keine Lust mehr. Opis haben wir genug gehabt.»

Gabriela Larisch, Pflegefachfrau im Ruhestand

Gabriela Larisch gehört zu ihnen, eine Pflegefachfrau im Ruhestand, die ihren Hund spazieren führt. Bis vor ein paar Jahren hat sie immer CDU gewählt wie schon ihre Eltern. Im Herbst wird sie den Grünen ihre Stimme geben. «Auf die alten Männer habe ich keine Lust mehr. Opis haben wir genug gehabt», sagt die 66-Jährige. «Es sollen jetzt mal etwas jüngere Politiker ran.» Und die Kritik an Baerbocks Buch, die abgeschriebenen Passagen, ihre Fehler? «Irrelevant», sagt Larisch und winkt ab. «Das ziehen doch nur die Gegner hoch.» Es gehe jetzt um Klimaschutz, die Kinder.

Es gab schon angenehmere Auftritte

Aber nicht jeder sieht das ebenso in Duisburg, wo Annalena Baerbock über die Armut in Familien spricht, über steigende Mieten und das Pflegepersonal, das mehr Geld bekommen müsse. «Natürlich muss Klimaschutz sozial gerecht sein», sagt sie auch, und dass der bevorstehende, schwierige Wandel nicht im Gegeneinander, sondern nur durch «dieses Miteinander» zu bewältigen sei. «Es gibt keinen Klimawandel», schreit einer vom Rand des Platzes. «Halt deine Fresse», brüllt einer aus der Mitte zurück. Die Grünenanhängerinnen und -anhänger, einst selbst passionierte Störer, gucken eher hilflos auf die, die heute Stunk machen, bevor sie sich am Ludgeriplatz vor Baerbocks Wahlkampfbus aufbauen. Als es vorbei ist, wird die Kanzlerkandidatin im gepanzerten Wagen davongefahren statt im Bus. Es hat schon angenehmere Auftritte gegeben.

Junge Leute und in die Jahre gekommene Velofreundinnen und Ostermarschierer: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, spricht vor Sympathisanten in Duisburg.

Baerbocks Besuch in Bochum zum Beispiel ist so einer, am Dienstagmittag taucht sie dort im Deutschen Bergbaumuseum auf. Seit 1930 werden hier Stirnlampen, rostige Hydraulik und enorme Kohlebrocken ausgestellt, das ganze Instrumentarium des Bergbaus samt künstlichem Stollen. Wer meint, hier habe sich das fossile Zeitalter ein Denkmal gesetzt, irrt sich allerdings. Vor allerlei Bildschirmen wird der grünen Kanzlerkandidatin erklärt, dass das Museum heute tatsächlich auch die Rohstoffgewinnung etwa für E-Autos erforscht, Plastikrecycling oder postkarbone Transformationsgesellschaften in Ost und West.

Sie spricht sich auch selber Mut zu

«Hier im Museum sind Forscher, die wissen, wie man Wasserstoff macht, wie man recycelt», sagt Baerbock, als sie wenig später vor Hunderten Menschen vor dem Museum steht. Sie erzählt vom Wandel, der nicht nur Verlust bedeute, sondern immer auch ein Aufbruch sei, irgendwie. «Unsere Zukunft ist erneuerbar, und wir sind stolz darauf», sagt Baerbock. «Wir packen das an.» Oder: «Wir machen es in Zukunft besser.» Es klingt, als habe da jemand beschlossen, auch sich selbst neuen Mut zuzusprechen.