Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

«Timekeepers» im Opernhaus
Zürichs Ballettdirektorin setzt auf Chaos, Liebe und Verzweiflung

Jubel vom Publikum für die Umsetzung von Gershwins «Rhapsody in Blue», mit Neuentdeckung Nehanda Péguillan aus dem Juniorballett (Mitte).
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es beginnt mit einem Ballett, das nie eines war: Vor hundert Jahren, 1923, entstand George Antheils «Ballet mécanique», eine Komposition, die den Hintergrund bilden sollte zum ersten surrealistischen-dadaistischen Film von Fernand Léger, Dudley Murphy und Man Ray. Aufgrund technischer Probleme wurden Film und Komposition aber nie zusammen aufgeführt. Unter anderem liessen sich die 16 mechanischen Klaviere, die neben Flugzeugpropellern, Xylofonen und Signalhörnern zur Instrumentierung gehörten, nicht miteinander synchronisieren.

Nun erhält die Komposition also doch noch Bilder zugestellt, ja, sogar tatsächlich ein Ballett. Zürichs Ballettdirektorin Cathy Marston hat die für ihre unkonventionellen Konzepte berühmte Choreografin Meryl Tankard mit der Aufgabe betraut, der ohrenbetäubend rasenden Klangkulisse Tanz hinzuzufügen.

Bei ihren Recherchen stiess die Australierin auf die Hollywoodikone Hedy Lamarr (1914–2000). Die Schauspielerin, die als «schönste Frau der Welt» vermarktet wurde, gilt heute als «Mutter der Wi-Fi-Technologie», weil sie damals zusammen mit George Antheil versuchte, die Klavierautomaten in Einklang zu bringen. Obwohl es nicht klappte, forschte sie weiter und erfand schliesslich das Frequenzsprungverfahren, das der Bluetooth-Technologie zugrunde liegt.

Chaos

Laut und chaotisch: Die Musik zu Meryl Tankards Choreografie zu «For Hedy» wird live gespielt und über 34 Lautsprecher verteilt.

«For Hedy» heisst Meryl Tankards Choreografie zu George Antheils Musik, die vom Pianisten Guy Livingston live auf der Bühne gespielt und mit Aufnahmen (Signalhörner, Flugzeugpropeller …) über 34 Lautsprecher verteilt wird. Laut und chaotisch klingt das. So, wie Antheil seine Zeit empfand. Und so, wie man auch das Heute empfinden kann.

Die australische Choreografin stellt eine stolze, ausdrucksstarke «Hedy» (Shelby Williams) in den Mittelpunkt der Bühne und lässt sie mit grossartigen Posen Struktur in das Chaos der Töne und der Leiber bringen. Denn um sie herum kriechen, schreien, springen und winkeln sich die Tänzerinnen und Tänzer in vielfältigen, oft kantigen Bewegungen, die sich so rasch verändern wie der klangliche Hintergrund.

Beide, Musik und Tanz, sind anstrengend: Da geschieht so vieles gleichzeitig, dass die Augen auch dann nicht zum Überblick finden, wenn sich der Tanz in Zeitlupe dehnt. Einzelne Geschichten schälen sich da und dort heraus: Hedy Lamarrs Beziehungssuche (sie war sechsmal verheiratet), ihr Stolz und ihr Streben nach intellektueller Anerkennung – die ihr erst spät zuteil wurde.

Das Premierenpublikum reagierte etwas verhalten auf das musikalisch und choreografisch mutige Werk. Es hätte mehr Anerkennung verdient, ganz so wie seine Titelfigur Hedy Lamarr, deren Leben gezeigt hat, dass nicht nur äussere Schönheit, sondern auch die intellektuelle zu begeistern vermag – auch wenn sich ihre Faszination vielleicht erst mit der Zeit erschliesst.

Liebe

CREATOR: gd-jpeg v1.0 (using IJG JPEG v80), quality = 70

Nach der perkussiven Gewalt des ersten Stücks will man kaum glauben, dass gleichzeitig ein anderer George seine unvergleichlich eingängigere «Rhapsody in Blue» komponierte: Auch Gershwins sinfonisches Jazzkonzert feierte seine Uraufführung vor hundert Jahren, am 12. Februar 1924. Das Ballett Zürich tanzt zur Version für zwei Klaviere eine choreografische Uraufführung: Der junge Südafrikaner Mthuthuzeli November, der in seinen Arbeiten die Leichtigkeit des klassischen Balletts mit der energetischen Erdverbundenheit des afrikanischen Tanzes verbindet, begeistert das Publikum mit lyrischen Klanginterpretationen, in denen sich einzelne Tänzerinnen und Tänzer ganz besonders entfalten können.

Brandon Lawrence sticht mit fliessender Eleganz hervor, ebenso Dores André, und als Neuentdeckung Nehanda Péguillan aus dem Juniorballett, die jenen kurzen Abschnitt der Aufführung prägt, in dem der Choreograf Gershwins Musik mit einer eigenen, von Naturgeräuschen inspirierten Komposition unterbricht und spürbar macht, wie wichtig im reissenden Strom des Alltags heute auch emotionalere Lebensentwürfe geworden sind. Das Publikum dankte für die von Energie, Hingabe und Liebe erfüllte Kreation mit jubelndem Applaus.

Verzweiflung

CREATOR: gd-jpeg v1.0 (using IJG JPEG v80), quality = 70

Den Abschluss bildet die Rekonstruktion einer Choreografie, die zusammen mit ihrer Musik ebenfalls vor hundert Jahren entstand. «Les Noces» von Bronislava Nijinska zur Musik von Igor Strawinsky erlebten ihre Uraufführung am 13. Juni 1923 in Paris. 42 Tänzerinnen und Tänzer stehen auf der Bühne, fast das komplette Ensemble und das Juniorballett. Sie bilden eine synchron wogende Hochzeitsgesellschaft, die sich in malerischen Bewegungsmustern zum menschlichen Tanzteppich verwebt.

Wer sich 2022 von Marcos Moraus ornamentaler Choreografie «Nachtträume» begeistern liess, findet in Nijinskas Menschenmustern die Ursprünge. Auch wenn die vom Volkstanz inspirierten Kostüme etwas altbacken aussehen – die Choreografie und die Musik sind es nicht.

Drei völlig unterschiedliche Tanzsprachen zeichnen diesen Ballettabend ebenso aus wie drei grundverschiedene Musikstücke, obwohl diese zur gleichen Zeit entstanden sind. «Timekeepers» sind sie nicht nur, weil in ihnen die Lebensgefühle ihrer Entstehungszeit bewahrt wurden, sondern vielmehr, weil sie heute noch so aktuell und revolutionär wirken wie damals.

Das mag erschrecken, denn sie stellen uns auch vor die Frage, ob die Welt vor ähnlichen Entwicklungen steht wie vor hundert Jahren oder ob sich die künstlerische Interpretation wieder zurückentwickelt in eine längst vergangene Zeit.