Interview mit Wildtier-Experte«Die Schweiz greift bei Problembären härter durch als Italien»
Der Bär, der den Jogger im Trentino getötet hat, ist die Schwester von Bruno und JJ3, sagt Sven Signer. Im Zeitraum von 2000 bis 2015 habe es in Europa insgesamt 19 tödliche Attacken von Bären gegeben.
Herr Signer, in der vergangenen Woche wurde im Trentino der 26-jährige Andrea Papi beim Joggen von einem Bären getötet. Hätte diese Tragödie vermieden werden können?
Mein Beileid und tiefstes Mitgefühl gilt als Erstes der Familie und den Angehörigen des Opfers. Es ist ein schrecklicher und tragischer Vorfall, den es zuvor in Italien noch nie gegeben hat. Dennoch kamen auch in Europa immer wieder Angriffe von wild lebenden Bären auf Menschen vor.
Wie viele waren es?
Gemäss einer Studie aus der Fachzeitschrift «Plos Biology» wurden in Europa im Zeitraum von 2000 bis 2015 insgesamt 291 Menschen von Bären angegriffen. Von diesen Attacken verliefen 19 tödlich. Niemand kann garantieren, dass dies in Zukunft nicht mehr passieren kann. Allerdings lässt sich das Risiko sehr stark minimieren, wenn der Mensch sein Verhalten in einem Bärengebiet anpasst und gewisse Vorsichtsmassnahmen ergriffen werden. Denn Bären ziehen sich in der Regel bei Anwesenheit von Menschen zurück.
In Nordamerika gehen einige Menschen nur noch mit einer grossen Pfefferspraydose am Gürtel oder einer Pistole in die Wälder. Ist dies nun auch im Trentino notwendig, wo mittlerweile gegen 100 Bären leben?
Wichtig ist, dass man in einem Bärengebiet mit Geräuschen oder Gesprächen auf sich aufmerksam macht. Dass man Abstand zu den Tieren hält, sie nicht füttert, seinen Abfall nicht irgendwo in der Wildnis liegen lässt und Hunde an der Leine führt. Pfeffersprays können bei einer Attacke helfen und Schlimmeres verhindern. Sie sind aber in einigen Ländern verboten, so auch in Italien, weil sie dort als Waffe gelten.
Muss man generell keine Angst haben, in den Bergen im Wald zu joggen, mit Kindern spazieren zu gehen oder im Zelt zu übernachten?
Ein Nullrisiko gibt es nie. Durch ein angepasstes Verhalten kann das Risiko aber minimiert werden. Grundsätzlich ist etwas mehr Umsicht und Vorsicht angebracht. Allerdings müssen wir auch mal die andere Seite sehen.
Zum Beispiel?
Der Bär M29 lebte rund zweieinhalb Jahre in der Schweiz und hielt sich völlig unauffällig im Engadin, in Uri, Obwalden, Nidwalden, im Berner Oberland sowie im Wallis auf. Mitte 2019 wanderte er wieder zurück nach Italien, in die Region von Domodossola. Er war nicht gefährlich, sorgte für keine Schlagzeilen und ging zurück, um sich dort fortzupflanzen. Denn in der Schweiz hatten wir noch nie ein Weibchen aus dem Trentino, weil sie nicht so weit umherziehen. Es handelt sich deshalb ausschliesslich um junge Männchen, die bei uns seit 2010 jedes Jahr für ein paar Tage, Wochen oder Monate zu Besuch kommen und dann irgendwann weiterwandern.
Der Trentiner Landeshauptmann Maurizio Fugatti sagt, dass das Projekt Life Ursus zu seinem ursprünglichen Entwurf, der etwa 50 Bären auf Trentiner Gebiet vorsah, zurückkehren müsse. Jetzt seien es etwa doppelt so viele. Gibt es inzwischen zu viele Bären in Italien?
Das würde ich nicht sagen. Um eine gesunde und fortpflanzungsfähige Population zu erhalten, sind 50 Bären zu wenig. Das Problem aus biologischer Sicht ist, dass es keinen natürlichen Austausch zwischen der Alpenpopulation und der sogenannten Dinariden-Pindos-Ursprungspopulation gibt, die sich von Slowenien bis Griechenland erstreckt und fast 4000 Individuen umfasst. Durch die Umsiedlung von 10 Bären aus Slowenien zwischen 1999 und 2002 wurde die damals im Trentino lebende kleine noch vorhandene Population verstärkt und hat rund zwanzig Jahre später jetzt ungefähr 100 Individuen.
«Im Vollzug greift die Schweiz härter durch als Italien.»
Hat die Schweiz ein anderes Managementsystem als Italien?
Im Prinzip haben wir sehr ähnliche Konzepte. Doch der grosse Unterschied ist, dass wir im Vollzug härter durchgreifen. Weil es in Italien eine sehr starke Tierrechtsbewegung gibt, wurden dort im Vergleich zu uns bisher nur wenig Bären geschossen. Insgesamt haben sie sechs Tiere aus der Trentiner Population entnommen, fünf leben seither in Gefangenschaft, und ein Bär wurde geschossen.
Und die Schweiz?
Am 28. Juli 2005 fotografierte ein Student aus Deutschland im Schweizerischen Nationalpark einen Bären – der erste Bär in der Schweiz seit hundert Jahren. Seit 2005 konnten fast jedes Jahr bei uns Bären aus dem Trentino nachgewiesen werden. Von diesen circa 18 Bären haben wir 2 Problembären erschossen. JJ3, der Bruder von Bruno (JJ1), sowie M13. Letzterer sorgte unter anderem für Ärger, weil er zu nah an Siedlungen kam, Bienenhäuschen plünderte und sehr viele Nutztiere riss.
Die Ergebnisse der DNA-Untersuchung der organischen Spuren, die der Bär am Ort des Angriffs hinterlassen hat, liegen jetzt vor. Wird das Tier nun erlegt?
Davon gehe ich aus. Es handelt sich um JJ4, die Schwester von Bruno und JJ3.
Warum lässt man Problembären nicht am Leben und bringt sie, wie etwa Brunos Mutter Jurka, in ein Gehege?
Aus unserer Sicht ist es ethisch problematisch, aus einem in der Wildnis aufgewachsenen Tier auf einmal ein Zootier machen zu wollen. In der Regel haben diese Tiere dann schwere Verhaltensstörungen und entwickeln Stereotype. Für uns war das nie eine Option.
Der dramatische Tod des jungen Mannes in der italienischen Gemeinde Caldes hat die Diskussion erneut entfacht, ob es in unserer heutigen Gesellschaft überhaupt Platz für Bären hat.
Der Groll der einheimischen Bevölkerung ist verständlich, und gleichzeitig ist die Akzeptanz der einheimischen Bevölkerung gegenüber Bären entscheidend für die Existenz einer Bärenpopulation. Es ist deshalb sehr wichtig, die Bevölkerung für das Zusammenleben mit Bären zu sensibilisieren und bei Problembären entsprechend zu handeln. Nicht zu vergessen dabei ist, dass solche Bären nur selten vorkommen und nur einen kleinen Teil der Population ausmachen.
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