Ausnahmezustand in NahostIsrael ruft zur Evakuierung von über einer Million Menschen auf
Die Bewohner von Gaza-Stadt werden zur Flucht in den Süden aufgefordert. Menschen berichten von der herrschenden Panik – Flucht ist aber für die meisten keine Option. Wohin auch?
Israels Militär will in den kommenden Tagen mit «erheblicher Härte» im Gazastreifen gegen die militant-islamistische Hamas vorgehen. Zugleich würden die Streitkräfte «umfangreiche Anstrengungen» unternehmen, um zivile Opfer zu vermeiden, erklärte Militärsprecher Jonathan Conricus am Freitag. Man verstehe, dass es dort Zivilisten gebe, «die nicht unsere Feinde sind und die wir nicht ins Visier nehmen wollen». Daher forderte das israelische Militär sie zur Flucht auf. Israels Militär hat die Palästinenser im nördlichen Gazastreifen zur Evakuierung aufgefordert. «Das Militär ruft alle Zivilisten von Gaza auf, ihre Häuser zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Schutz nach Süden zu verlassen», teilte die Armee am Freitagmorgen mit.
Israels Militär hat die Zivilbevölkerung im Norden des Gazastreifens aufgerufen, in den Süden des nur 40 Kilometer langen Küstengebiets zu gehen. Von der Anweisung wäre die Hälfte der mehr als 2,3 Millionen Einwohner betroffen, darunter Hunderttausende Menschen in Gaza-Stadt.
Gemäss UNO wären von einer solchen Evakuierung mehr als eine Million Menschen betroffen. «Das sind etwa 1,1 Millionen Menschen», sagte UNO-Sprecher Stéphane Dujarric der US-Nachrichtenseite «Axios». Die Teamleiter des UNO-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und der Abteilung für Sicherheit in Gaza sind demnach von ihren Verbindungsoffizieren beim israelischen Militär über die Evakuierung informiert worden. Der Befehl habe für alle UNO-Mitarbeiter und diejenigen, die in UNO-Einrichtungen untergebracht waren, gegolten, einschliesslich Schulen, Gesundheitszentren und Kliniken, so Dujarric zu «Axios».
Dujarric, der Sprecher von Generalsekretär António Guterres, forderte eine Rücknahme der Anordnung. «Die Vereinten Nationen appellieren nachdrücklich an die Rücknahme eines solchen Befehls, falls er bestätigt wird», erklärte Dujarric am Freitag der Nachrichtenagentur AFP und warnte, dies würde die bereits bestehende Tragödie in eine «katastrophale Situation» verwandeln. Eine Evakuierung dieses Ausmasses sei unmöglich, ohne verheerende humanitäre Folgen zu verursachen.
Sie essen nur noch wenige Mahlzeiten, aus Angst, dass die Vorräte nicht reichen.
In Gaza-Stadt gibt es seit Sonntag schwere Luftangriffe. Es gibt keinen Strom mehr, auch die Wasserversorgung ist prekär, da die Wasserpumpen mit Strom funktionieren. Die UNO und internationale Hilfsorganisationen fordern Zugang für humanitäre Hilfe – bislang erfolglos. Die Bewohner aus Gaza berichten von einer Ausnahmesituation.
Wie zum Beispiel die 36-jährige Duaa al-Sakani, die den Gazastreifen noch nie verlassen hat. Und auch jetzt will sie in ihrer Wohnung nahe Rafah bleiben, auch wenn sie vom Fenster aus schwarze Rauchschwaden aufsteigen sieht. Die Anwältin lebt dort mit ihrem Mann, ihren fünf Kindern, weiteren Verwandten. So viele Angriffe wie in den vergangenen Tagen habe sie noch nie erlebt, erzählt sie. «Ganze Viertel mit Schulen, Moscheen, Anwaltskanzleien, Kiosken – auf einmal dem Erdboden gleichgemacht. Wie viele Zivilisten liegen wohl unter den Trümmern?», fragt Sakani. Das Gespräch findet über Internetdienste statt, ihr Mann hat eine ägyptische SIM-Karte, die noch funktioniert.
Mehrere Kilometer, um Wasser zu holen
Als Reaktion auf die Terrorangriffe der Hamas am Samstag mit mindestens 1300 Toten bombardiert Israel den Gazastreifen, in dem rund zwei Millionen Palästinenser leben. Rund 150 Menschen wurden von der Hamas in den dicht besiedelten Küstenstreifen verschleppt und werden dort als Geiseln festgehalten. Die humanitäre Situation in Gaza war schon zuvor prekär, stundenlange Stromausfälle, hohe Arbeitslosigkeit, keinerlei Bewegungsfreiheit. Die Zahl der in Gaza getöteten Palästinenser steigt nach palästinensischen Angaben auf mehr als 1500.
Derzeit sind mehr als 260’000 Menschen in Gaza aus ihren Häusern und Wohnungen geflohen, wie das UNO-Nothilfebüro Ocha berichtet. Die Vertriebenen kämen in Schulgebäuden, bei Verwandten oder Nachbarn unter, teilt die Organisation mit. Die palästinensische Journalistin Plestia Alaqad berichtet über Instagram von ihrer Flucht von einer Wohnung in die nächste, sie nimmt ihre Zuschauer hautnah mit und spricht mit ihnen auf Englisch, immer wieder hört man Explosionen.
«Lieber Landsmänner, die uns regieren, als Soldaten einer Besatzungsmacht.»
Duaa al-Sakani und ihre Familie wollen nicht fliehen, egal, was kommt. «Unseren Kindern erzählen wir, die Luftangriffe seien Feuerwerke», sagt Sakani. Ihr Ältester ist 14, ihr Jüngster 2 Jahre alt. Den jetzigen Ausnahmezustand bekomme er dennoch mit. Derzeit müsse man mehrere Kilometer laufen, um Wasser zu holen, jedes Mal sei man froh, wenn man wieder sicher zu Hause angekommen sei. Über Brennholz backen sie Brot, sie essen nur noch wenige Mahlzeiten, aus Angst, dass die Vorräte nicht reichen.
Als man sie auf die Hamas anspricht, sagt Sakani, dass sie sich eine andere Zukunft für Palästina und ihre Kinder wünsche. «Wir wollen in einem freien Land mit freien Wahlen leben, ohne eine Besatzungsmacht.» Wenn man genauer nachhakt, sagt sie: «Lieber Landsmänner, die uns regieren, als Soldaten einer Besatzungsmacht. Wir leben seit 16 Jahren unter einer Blockade, ich will einfach nur ein normales Leben in Freiheit und Würde», sagt die Frau. Im Hintergrund hört man nun die Stimme ihres Mannes. Er will auch etwas sagen.
«Wie sollen wir uns verteidigen, wenn wir keinen Staat, keine Armee haben? Sollen wir leise sterben, wollt ihr das?»
Mohammed Hamdan Ishta ist 47 Jahre alt und engagiert sich nach eigenen Angaben in der Fatah, also der Palästinenserorganisation, die mit der Hamas verfeindet ist und im Westjordanland regiert. Er hält wenig von der Hamas, sagt aber, dass eine Kollektivstrafe zu nichts führen werde. «Was wir als Palästinenser in den letzten Jahren und Monaten gesehen haben, ist einfach zu viel. Siedler, die das Gelände der Al-Aqsa-Moschee stürmen, die mit Knüppeln und Schusswaffen durch die Gassen von Huwara im Westjordanland ziehen, Siedler, die Palästinenser attackieren mit dem Ziel, uns zu vertreiben – und die israelische Armee schaut zu, die Welt schaut zu», sagt Ishta. Er möchte wissen, was man als Palästinenser tun darf. «Wie sollen wir uns verteidigen, wenn wir keinen Staat, keine Armee haben? Sollen wir leise sterben, wollt ihr das?»
Die Familie ist sich sicher, dass Gaza diesmal vor einem Wendepunkt steht. Derzeit spricht die US-Regierung mit Israel und Ägypten über die Öffnung des Grenzübergangs Rafah für Zivilisten, um eine Ausreise aus dem Gazastreifen zu ermöglichen. «Man wird uns vor die Wahl stellen: Entweder wir sterben, oder wir verlassen unser Land. Aber 1948 wird sich nicht wiederholen. Ich bin Familienvater und sage schweren Herzens: Ich werde lieber unter dem Schutt meines Hauses sterben, als meine Heimat zu verlassen.»
«Besatzung ist keine Dauerlösung»
Für die Palästinenserinnen und Palästinenser steht das Jahr 1948, die Gründung des Staates Israel, für die Nakba, eine Katastrophe, da sie mit Flucht und Vertreibung Hunderttausender palästinensischer Einwohner aus dem heutigen Staatsgebiet Israels einherging. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während des ersten arabisch-israelischen Kriegs rund 774’000 Palästinenser vertrieben oder zur Flucht gezwungen.
Mostafa Mohsen glaubt nicht, dass es zu einer grossen Fluchtbewegung kommen wird. «Wie auch? Wir stecken hier alle fest. Und selbst wenn sie die Grenze nach Ägypten öffnen, ich würde meine Stadt niemals verlassen», sagt der 45-Jährige am Telefon. Er hat in Deutschland studiert und arbeitet für eine deutsche Organisation, möchte aber nicht mit seinem echten Namen sprechen, weil er berufliche Konsequenzen fürchtet. «Die Stimmung ist gerade sehr aufgeheizt. Kritik gegen das israelische Vorgehen in Gaza wird gerade nicht gern gehört», sagt Mohsen.
Immer wieder bricht die Verbindung zusammen, im Hintergrund hört man Explosionen. Was er von den Angriffen der Hamas vom vergangenen Wochenende hält? «Ich bin 100 Prozent gegen die Hamas, ich lehne jegliche Gewalt ab, und jedes Menschenleben ist wertvoll», sagt er. Dann fügt er hinzu: «Aber die Besatzung ist keine Dauerlösung. Die Dauerprovokationen, das Dauerelend, die Dauerungerechtigkeit, das macht etwas mit uns.» 60 Prozent der Menschen in Gaza leben unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosenquote liegt laut den Vereinten Nationen bei 46 Prozent. «Wir Palästinenser haben keinerlei Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft.»
«All die Siedlungen im Westjordanland verstossen gegen internationales Recht, aber Europa und die USA lassen Israel einfach seit Jahren gewähren.»
Mostafa Mohsen hat sich selbst in einem als sicher geltenden Hotel untergebracht. Das kostet so einiges, 200 Euro pro Nacht, erzählt er. Geboren ist er im schicken Stadtteil Rimal, hier lebten die Reichen von Gaza, die meisten seien gegen die Hamas gewesen, erzählt er. Mittlerweile wurden weite Teile des Stadtviertels dem Erdboden gleichgemacht. Mohsen gibt der internationalen Gemeinschaft eine grosse Mitschuld an der Eskalation: «All die Siedlungen im Westjordanland verstossen gegen internationales Recht, aber Europa und die USA lassen Israel einfach seit Jahren gewähren. Mittlerweile ist die Zweistaatenlösung ein für alle Mal tot», sagt Mohsen.
Seit gestern hätten sie keinen Strom mehr, nur die Häuser, die ein Solarpanel auf dem Dach haben, und das seien wenige, hätten noch für ein paar Stunden Elektrizität. Nachts sei es in Gaza stockdunkel, erzählt Mohsen. Die Spitäler müssten selbst Schwerverletzte wegschicken, weil sie keine Kapazitäten mehr für Operationen hätten. Selbst wenn ein paar Supermärkte noch gut bestückt seien, sei es derzeit zu gefährlich, einkaufen zu gehen. «Ich hoffe wirklich auf einen humanitären Korridor, man darf uns hier nicht einfach sterben lassen», sagt Mohsen.
«Hamas ist nicht gleich Palästina. Wir sind Menschen, die unter der Geiselhaft der Hamas, aber auch von Israel leben.»
Besonders enttäuscht ist er über die Überprüfung der Hilfszahlungen an die Palästinenser. Nach dem Grossangriff der Hamas auf Israel will die EU ihre Hilfsleistungen an die Palästinenser prüfen und gegebenenfalls «anpassen». «Hamas ist nicht gleich Palästina. Wir sind Menschen, die unter der Geiselhaft der Hamas, aber auch von Israel leben», sagt Mohsen. Die Aussage, dass die Hamas die Einwohner des Gazastreifens als menschliche Schutzschilde benutze, hält er für eine «blödsinnige Rechtfertigung».
Eine derartige Kollektivstrafe sei durch nichts zu entschuldigen. Doch wie soll Israel dann für seine eigene Sicherheit sorgen, damit sich der 7. Oktober nie mehr wiederholt? «Es muss eine politische Lösung geben, die Besatzung muss enden. Selbst wenn sie die Hamas vernichten, die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit wird eine neue Miliz hervorbringen. Was bringt es jetzt, uns 50 Jahre in die Vergangenheit zu bomben?», fragt er, kurz bevor er zurück in den Bunker zu seiner Familie geht. Es sei der einzige in der Stadt, sagt er.
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