Über 300 km/h schnell Ausgerechnet jetzt baut eine Schweizer Firma einen benzinbetriebenen Sportwagen
Selbst Ferrari plant den Umstieg auf E-Mobilität. In Graubünden entsteht hingegen ein neuer Supersportwagen mit Benzinmotor. Und das im Jahr 2022. Was treibt die Macher an? Ein Werksbesuch.
Zwischen den bewaldeten Hügeln des Misox nahe San Vittore ragt ein futuristischer Betonkasten in den Himmel. Hinter den Stahltoren erstreckt sich eine grosse Halle, die komplett in Weiss gehalten ist. Als dunkler Kontrast kauert dort etwas einsam ein grauer Sportwagen mit riesigem Heckflügel: der 660 LMS.
Der Prototyp des Supersportwagens mit 660 PS wird von einer Karosserie aus dem Leichtbaumaterial Carbon umhüllt – und ist ein Picasso für die Garage. Denn die Schweizer Herstellerfirma heisst Picasso Automotive.
Gründer und Namensgeber ist Stefano Picasso. Mit dem gleichnamigen spanischen Maler hat der 36-jährige Italiener nichts zu tun, seine Familie stammt aus Ligurien. Stefano Picassos Kunstwerk hat vier Räder und viel Leistung.
Gemeinsam mit dem deutschen Investor Robert Wild hat Picasso das Unternehmen vor erst zwei Jahren gegründet. Aber warum bauen ein Italiener und ein Deutscher im Jahr 2022 in der Schweiz noch ein neues Benzinauto, wenn selbst Ferrari angesichts des Klimawandels Richtung E-Mobilität geht?
Von der Rennjacht zum Sportwagen
Die beiden Firmengründer sind Autoenthusiasten, ihre Geschichte ist ungewöhnlich. Wie das Auto, das sie bauen.
Stefano Picasso war früher einmal Profi-Wasserballer. Der Mann ist kein studierter Ingenieur. Nach seiner Sportlerkarriere arbeitete er im Schiffbau und konstruierte Rennjachten. So kam er mit dem Thema Leichtbau in Berührung. «Beim Schiffbau für Rennjachten und beim Bau von Sportwagen gibt es Gemeinsamkeiten, wie das Verwenden sehr leichter Materialen, die extreme Lasten aushalten müssen», erklärt Picasso. Und der Autobau habe ihn schon immer fasziniert.
Regatta-Jachten sind Sportgeräte für reiche Leute, entsprechend kam er mit wohlhabenden Sammlern von Sportwagen in Kontakt. Bei einem Motorsport-Anlass in Lugano traf er dann den Investor Robert Wild.
Wild hat in seiner privaten Garage einige Sportwagen. Aber das reicht ihm nicht. Denn heutige Flitzer werden zunehmend grösser und schwerer. Dank leistungsfähigerer Motoren sind sie zwar schnell. Aber Picasso und Wild wollten eine leichte, schnelle Fahrmaschine bauen.
Das Ergebnis ist der 660 LMS. 660 PS müssen beim Schweizer Carbon-Renner nur 980 Kilogramm bewegen. Zum Vergleich: Ein Porsche 911 Carrera wiegt knapp eineinhalb Tonnen und hat 385 PS.
«Wir haben dieselbe Philosophie beim Sportwagenbau, also habe ich mich entschlossen, Stefanos Projekt zu finanzieren», erzählt Robert Wild. Über Zahlen will der Investor zwar nicht reden, dem Vernehmen nach sind es aber weniger als 10 Millionen Franken.
«Wir halten E-Autos nicht für die Lösung. Unser Sportwagen soll nicht die Welt retten, sondern Spass machen.»
Die Europäische Union schickt sich an, 2035 Verbrennerautos zu verbieten. Und ausgerechnet jetzt gründen die beiden eine Firma, die ab 2023 einen neuen Benzinrenner ausliefern will? Picasso bringt die Frage nach der E-Mobilität nicht aus der Fassung. «Wir halten E-Autos nicht für die Lösung», sagt er. «Eine Batterie macht den Wagen zu schwer, das widerspricht unserer Philosophie.»
Womöglich wird die EU aber Ausnahmen für klimaneutrale synthetische Treibstoffe gewähren. Darum soll der V6-Biturbo-Motor, den der italienische Motorenspezialist Autotecnica Motori zuliefert, auch mit Ökosprit betankt werden können. Der ist zwar derzeit noch selten und entsprechend teuer. Aber wer rund 800’000 Franken für ein Auto ausgibt, schaut auch nicht auf die Tankrechnung.
Zudem sagt Picasso ganz offen: «Unser Sportwagen soll nicht die Welt retten, sondern Spass machen, die Kunden sollen ihn aber auch nachhaltig betreiben können.»
Sechs Autos haben sie bereits verkauft
Nur 21 Exemplare des Carbon-Renners sind geplant, sechs davon haben Stefano Picasso und sein Partner Wild bereits verkauft, zwei davon an Schweizer Kunden. Die Auslieferungen sollen im nächsten Jahr beginnen, jeder Wagen wird dabei individuell nach Kundenwunsch gefertigt.
Der Prototyp in der Werkshalle ist noch nicht fahrbereit, der Motor muss noch auf dem Teststand letzte Bewährungsproben hinter sich bringen. Wer sich zum Testsitzen über die breite Seitenschwelle auf die engen Schalensitze fallen lässt – schon der Einstieg ist Sport –, hat einen Superblick auf die Strasse vorne. Nach hinten sieht der Fahrer – nichts. Denn ein Heckfenster gibt es nicht, statt Aussenspiegel liefern Kameras die Sicht nach hinten.
Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Center Automotive Research in Duisburg, steht dem Projekt skeptisch gegenüber. «In der Liga ist der Verkaufspreis zweitrangig, aber Picasso Automotive tritt gegen grosse Namen an», sagt er. Beim Kauf von Supersportwagen zählten neben der Leistung auch Faktoren wie Prestige, etwa durch Siege im Motorsport oder dank einer klangvollen Geschichte. Beides habe das Start-up nicht vorzuweisen.
Picasso und Wild glauben dennoch an ihren Erfolg. Und planen bereits weitere Neuentwicklungen wie eine Version ihres Sportwagens mit abnehmbarem Dachteil. «Wir wollen eine kleine, exklusive Autoschmiede sein, die einen persönlichen Draht zu den Kunden hat», sagt Robert Wild. Eines schliesst sein Geschäftspartner Stefano Picasso aber mit Nachdruck aus: «Einen SUV bauen wir mit Sicherheit nicht.»
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